Der Gott, der verschwindet
Die Originalität des hethitischen religiösen Denkens wird v.a. in der Neuinterpretation einiger wichtiger Mythen greifbar. Eines der bemerkenswertesten Themen ist der "Gott, der verschwindet". In seiner bekanntesten Version ist Telipinu der Protagonist. Andere Texte übertragen diese Rolle seinem Vater, dem Wettergott, dem Sonnengott oder auch bestimmten Göttinnen. Der Hintergrund ist - wie auch der Name Telipinu - hattisch. Die hethitischen Versionen wurden im Zusammenhang mit verschiedenen Ritualen verfaßt, d.h. also, die Rezitation des Mythos spielte im Kult eine entscheidene Rolle.
Da der Anfang der Erzählung verloren ist, wissen wir nicht, warum Telipinu beschließt, zu "verschwinden". Möglicherweise, weil die Menschen ihn verärgert haben. Die Folgen seines Verschwindens werden unmittelbar spürbar. Die Feuer im Herd verlöschen, Götter und Menschen fühlen sich "bedrückt", das Schaf verließ sein Lamm und die Kuh ihr Kalb; "Gerste und Emmer reiften nicht mehr", Tiere und Menschen begatten sich nicht mehr; die Weideflächen dörrten aus, und die Quellen versiegten.
(Dies ist möglicherweise die erste literarische Version des bekannten mythologischen Motivs des "gaste pays", des öden Landes, das durch die Gralsromane berühmt wurde).
[...]
Schließlich schickt die Muttergöttin die Biene, diese findet den Gott schlafend in einem Hain und weckt ihn durch ihren Stich. Telipinu aber ist erzürnt und bewirkt solches Unheil im Lande, daß die Götter Angst bekommen [...] durch magische Zeremonien und Formeln wird Telipinu von seinem Zorn und vom "Bösen" gereinigt. Beruhigt kehrt er schließlich in den Kreis der Götter zurück - und das Leben geht wieder seinen gewohnten Gang.
Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen. Band I. Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis. Freiburg i. Breisgrau 1978.