als literarisches Motiv (exzerpiert aus E. Frenzel: Motive der Weltliteratur):
In die Zukunft weisende Bilder und Worte dokumentieren das Hineinreichen des übersinnlichen Bezirks in den irdischen.
Es ist eines der ältesten literarischen Motive der Welt. Schon im Gilgamesch-Epos (um 2000 v. Chr.) erfährt Gilgamesch aus zwei Träumen von seiner künftigen Freundschaft zu Enkidu. Auch Enkidu wird später in Träumen der Tod angekündigt, auch diese Prophezeiung geht in Erfüllung.
Im AT erfolgt die Ermordung König Belsazars unmittelbar, nachdem ihm der Prophet Daniel eine geheimnisvolle Inschrift gedeutet hat:
"Und als sie so tranken, lobten sie die goldenen, silbernen, ehernen, eisernen, hölzernen und steinernen Götter. Im gleichen Augenblick gingen hervor Finger wie von einer Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter auf die getünchte Wand in dem königlichen Saal. Und der König erblickte die Hand, die da schrieb. Da entfärbte sich der König, und seine Gedanken erschreckten ihn, so dass er wie gelähmt war und ihm die Beine zitterten. [...] So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-parsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben." Daniel 5, 4-6+25-28
In Homers Odyssee (800 v. Chr.) weist das Erscheinen und Verhalten von Vögeln auf die Zukunft hin, bes. die antike Tragödie benutzt prophetische Zeichen als Vorbereitung auf eintreffendes Unheil:
Aischylos: Die Perser, 472 v. Chr.
Die Mutter des Perserkönigs träumt davon, dass eine Frau in dorischer Kleidung den Kriegswagen ihres Sohnes umstürzt und ein Geier einen Adler zerfleischt, danach erhält sie die Nachricht vom Untergang des Perserheeres.
Aischylos: Die Choephoren, 458 v. Chr.
Klytaimestra berichtet, sie habe im Traum einen Drachen geboren und die Brust gereicht, aus der schwarzes Blut gequollen sei > Elektra und Orest beschließen, die Mutter zu töten.
Sophokles: Die Trachinierinnen, 435 v. Chr.
Weissagungen, die sich auf den Herakles beziehen
[Welche? Von wem?]
Euripides: Iphigenie bei den Tauren, 412, v. Chr.
Iphigenie sieht im Traum den heimatlichen Palast zerstört, nur noch eine restliche Säule in menschlicher Gestalt > kurz darauf erfährt sie vom Ende ihrer Eltern.
Ebenfalls anzutreffen in der antiken Komödie (Plautus: Rudens, um 200 v. Chr.) und dem antiken Epos (Vergil: Aeneis, 30-19 v. Chr., dort der allegorische Traum Didos und die Erscheinung ihres verstorbenen Mannes) Das Mittel des weissagenden Geistes eines Toten wird weitergeführt (auch des wirkungsvollen Bühneneffektes wegen).
"Wie in der klassischen Dichtung treffen auch in der germanischen Prophezeiungen rasch und genau ein."
Edda: Traum der Brunhild vom Untergang der Giukunge, Traum des Atli vom eigenen Untergang und dem seiner Söhne.
Waltharius, Ende 9. Jh: Traum des Hagen, ein Bär werde ihn und Gunter im Kampf verletzen.
Träume über den Werdegang eines eben geborenen Helden (um die spannungsvolle Erwartung des Lesers zu steigern und den Gegenstand der Darstellung zu erhöhen), manchmal auch mit warnender Funktion
Wace: Geste des Normans, 12. Jh: Die Mutter Wilhelm des Eroberers träumt einen regelrechten Stammbaumtraum
Ruodlieb, Eposfragment Mitte 11. Jh: Die Mutter träumt vom kriegerischen und ehrenvollen Weg ihres Sohnes.
Christliche Dichtung des Mittelalters
Vorausdeutungen, die sich nicht auf die christliche Heilsbotschaft beziehen, erscheinen oft in Form von vorchristlicher Tiersymbolik
Pfaffe Konrad: Rolandslied, um 1170. Karl der Große sieht in einem Traum, wie ein Bär sich losreißt und ihn anfällt, >Ganelons Verrat
König Rother, um 1150: Ein Falke entführt die Kaiserstochter übers Meer > Sinnbild für den Freier
Ebenso Falke in den NIBELUNGEN (um 1200), von dem Kriemhild träumt, dass er von zwei Adlern zerrissen wird.
Anmerkung: Größtenteils haben Frauen offenbar diese Warnträume