Aus meiner Serie "Heiligtümer der besonderen Art"für das
Vatican-Magazin August-September 2011. [Über die Benediktiner von Norcia gibt es jetzt einen wunderschönen Dokumentarfilm, auf den ich bereits im Blog hingewiesen hatte. Hier zum
Youtube-Link nochmals.]
Norcia - der Geburtsort des heiligen Benedikt. Als sich der Erdkreis verfinstert hatte.
Von Barbara Wenz.
In der dunklen Krypta der Basilika San Benedetto in Norcia, Umbrien, befindet sich eine Stätte, welche für die katholische Kirche und für das ganze christliche Abendland von unermesslicher Bedeutung ist. Eine kleine Apsis im linken Seitenschiff markiert den Ort, an dem der heilige Benedikt und seine Zwillingsschwester, die heilige Scholastika, vor gut 1500 Jahren das Licht der Welt erblickten. In dieser Welt war es allerdings finster geworden: der Glanz des römischen Imperiums erloschen, ringsum herrschte Chaos, Gewalt, Barbarei –mithin der völlige Zusammenbruch politischer, juristischer und sozialer Sicherheiten. Doch die gleißende Strahlkraft des authentisch gelebten Evangeliums befand sich bereits auf dem Wege, dem geschüttelten Kontinent spirituelle Erste Hilfe zu leisten: Lange bevor Columban und seine iro-schottischen Brüder zur Mission des Festlandes aufbrachen, schifften sich von Syrien aus eine Handvoll Wüstenväter nach Italien ein und stießen ins Landesinnere bis ins heutige Umbrien vor. Unweit von Norcia siedelte eine dieser Gemeinschaften unter der Leitung des heiligen Spes, der im Jahre 510 starb. Höchstwahrscheinlich hat Benedikt, geboren um 480, diese ursprünglich syrischen Zönobiten gekannt, denen sich immer mehr Einheimische anschlossen. Der junge Benedikt dagegen wurde zunächst zum Studium nach Rom geschickt. Wer weiß, wie sich die Geschichte der Kirche und des Abendlandes entwickelt hätte, wenn er dort nicht direkt mit den Auswüchsen des vollständigen politischen, moralischen und geistlichen Verfalls konfrontiert worden wäre.
Zunächst suchte er Zuflucht bei Asketen in den Sabiner Bergen, dann zog er sich für einige Jahre als Höhleneinsiedler zurück, bevor ihn der Ruf der Mönche von Vicovaro ereilte, die ihn zum Abt haben wollten – und sich als äußerst undankbar erwiesen. Weil ihnen seine Vorschriften als zu streng erschienen, versuchten sie den frisch gebackenen Abt zu vergiften – jedoch entwich das Gift als Schlange aus dem Becher, bevor Benedikt davon trinken konnte. Etwas Ähnliches passierte ihm auch mit einer anderen Gemeinschaft in Subiaco, die er auf der Basis der strengen Pachomius-Regel führte. Vielleicht waren es diese Erlebnisse, die ihn dazu brachten, dass er endlich im Jahre 540 seine eigene, ausbalancierte regula Benedicti niederschrieb - und somit das westliche Mönchstum und die benediktinische Klosterkultur begründete.
Diese Klöster waren „Brennpunkte höchster Kultur, des geistigen Eifers, der Lebenskunst, der Bereitschaft zum sozialen Handeln – mit einem Wort, ein Netz von Zentren hoch entwickelter Zivilisation, die aus den bewegten Fluten der sie umgebenden Barbarei herausragten. Der hl. Benedikt ist ohne jeden Zweifel der Vater Europas. Die Benediktiner, seine Söhne, sind die Väter der europäischen Zivilisation.“ (aus: Grégoire, Moulin, Oursel: Die Kultur der Klöster).
Die kirchliche Tradition hat dieser Stätte in Norcia immer Verehrung bezeugt. Wer über die malerische Piazza San Benedetto gelaufen, das Portal der Basilika aus dem 14. Jahrhundert mit seiner ziseliert gearbeiteten fast weißen Rosette, der Lunette mit Madonna und Kind, flankiert von zwei Anbetungsengeln, bewundert und die Statuen von Benedikt und Scholastika, die über dem Eingang angebracht sind, gegrüßt hat, steigt hinab an jenen Ort mit der kleinen Apsis, zu dem die Pfahlwurzel des einstmals christlichen Baumes Europa reicht. Seit dem Jahre 2000 bezieht diese tiefreichende Wurzel wieder frisches, geistliches Wasser – in Form einer kleinen Gemeinschaft, die sich mit glühendem Herzen und voller Seeleneifer der regula ihres Gründervaters verschrieben hat.
Erstmals seit die Coelestiner 1810 durch die Napoleonischen Gesetze von dort vertrieben wurden, wird hier wieder sieben Mal am Tag das Stundengebet gesungen, auf Latein und nach der alten Form, in der auch die Hl. Messe gefeiert wird. Die Benediktiner von Norcia haben ein Apostolat zur Pflege beider Formen vom Heiligen Stuhl erhalten, doch der Ortsbischof von Spoleto-Norcia hatte vor einem Jahr angeordnet, dass in religiösen Häusern nur noch eine einzige Sonntagsmesse gefeiert werden solle. So wurde die Messe in der außerordentlichen Form zur Konventsmesse; die ordentliche Form wird dennoch weitergepflegt, wenn die vier Priester der Gemeinschaft in die umliegenden Bergdörfer hinaufsteigen, um dort Gemeindemessen zu zelebrieren.
Gegründet in Rom mit zunächst nur drei Angehörigen, einem Appartment als „Konvent“ und einer tragbaren Hauskapelle, besteht diese Gemeinschaft heute aus 19 Mönchen, davon vier Priester und zwei Novizen. Der Prior, Father Cassian Folsom, schätzt das Durchschnittsalter seiner Mitbrüder auf etwa 28 Jahre. Beeindruckend.
Fünf Jahre, nachdem Father Cassian mit seinen Brüdern vom Bischof nach Norcia berufen wurde, wird ein Deutscher Papst, der sich Benedikt XVI. und sein Pontifikat unter das Patronat desjenigen Mannes stellt, dessen Wirken das christliche Abendland in volle Blüte getrieben hat. Hier in Norcia also wieder Benediktiner, die in einer Zeit des großen Glaubensabfalls in Europa den Geist ihres Gründers neu entzünden. Dort in der Ewigen Stadt, die der heilige Benedikt damals angewidert verlassen hatte, ein weißhaariger Mann Ende Siebzig, im Herbst seines Lebens, der nicht aufhört, die außer Rand und Band geratenen Erben einer großen Zivilisation, die von ihrer Abkunft nichts mehr wissen will, daran zu erinnern, wer sie sind, wo sie herkommen und wohin die Reise gehen muss, wenn sich nicht die brutalen ideologischen Experimente des 20. Jahrhunderts wiederholen sollen. Bereits anlässlich seiner ersten Generalaudienz am 27. April 2005 kam der Papst auf den heiligen Benedikt von Nursia zu sprechen, und erklärte, gemäß dessen Regel, dass der Liebe zu Christus nichts vorzuziehen sei, bevor er ihn um seine Fürsprache für ihn und uns alle anrief, an der zentralen Stellung Christi in unserem Dasein festzuhalten. Der frisch gekürte Papst hatte wohl nicht nur eine Erläuterung seiner Namenswahl im Sinn, sondern er wollte sich vergewissern, sozusagen beide Beine fest auf den Boden stellen, um unverrückbar denjenigen in den Blick zu nehmen, in dessen Namen er künftig dem spirituellen Wachkoma-Patienten Europa immer wieder und wieder gut zureden würde.
Es geschieht eher selten, dass dieser sanftmütige und bescheidene Papst zu drastischen Bildern und feurigen Worten greift – wenn er es tut, dann geht es um Dinge, die ihn zutiefst umtreiben, mit brennender Sorge erfüllen. Dazu gehört insbesondere der geistliche Zustand des modernen Europa, äußerlich zwar politisch geeint, aber von der inneren Aushöhlung bedroht. In seiner Botschaft zum Weltjugendtag 2011 in Madrid warnte er jüngst wieder vor der drohenden Gottesfinsternis im Westen, vor einer starken laizistischen Denkströmung, die Gott aus dem Leben der Menschen und der Gesellschaft ausgrenzen wolle. Dies aber, so lehre die Erfahrung, führe nicht zu einem Paradies auf Erden, sondern zu einer Hölle von Spaltung, Egoismen und Hass. Joseph Ratzinger, Geburtsjahrgang 1927, hat eine davon selbst erlebt. Er weiß, dass er die Ernte der Saat, die er ausbringt, nicht einfahren wird. Er kann nur das tun, was der heilige Benedikt zu seiner Zeit auch getan hat. Auch jener wurde angefeindet, man trachtete ihm sogar nach dem Leben. Doch wie der heilige Benedikt auch, ist unser Papst ja nicht allein. Und an der Geburtsstätte seines Patrons betet und singt eine außergewöhnliche Gemeinschaft, die junge Männer aus allen Ecken und Enden der Welt - Europa wie Übersee - anzuziehen vermag. Die Sonntagsmesse in der außerordentlichen Form ist zwar nicht schlecht besucht, aber das Kirchenschiff auch nicht gerade gefüllt. Zu den öffentlich mitsingbaren Gebetszeiten – wie Vesper und Komplet – finden sich meist nur eine Handvoll Getreue, zumeist auch recht junge Gläubige, in der Krypta ein.
Draußen, auf den Stufen der Basilika dagegen, tummelt sich das pralle Leben. Für Touristen, Rentner, Schüler ist sie ein beliebter Treffpunkt. Manchmal treibt ein unerwarteter Regenschauer eine aufgeregte und fröhlich scherzende Schar in das leere Kirchenschiff hinein. Wenn dann gerade unten in der Krypta die Non gebetet wird, durchzieht die Basilika über die Lautsprecher ein sphärischer, hauchzarter Gesang. Die jungen Mönche singen uralte lateinische Psalmen, durchwirken das Kirchenschiff mit einer Ahnung vom himmlischen Jerusalem. Dies war einstmals der „Soundtrack“ zum Aufbau einer großartigen Kultur, die nun auf dem besten Wege scheint, nicht nur ihr Herz, sondern auch noch ihre Seele zu verlieren - in einer Zeit, in der für viele nur noch ein plötzlicher Regenschauer Anlass ist, in einer Kirche Zuflucht zu suchen. Doch da geschieht etwas: Die eben noch aufgeregt herumschnatternden Touristen oder ausgelassen scherzenden Schüler werden mit einem Mal ruhig. Der laute Schlaf der Welt fällt von ihnen ab – man kann dabei zuschauen. Mit langsamen, fast ehrfürchtigen Bewegungen, nehmen sie in den Kirchenbänken Platz.
Das neue Europa ist noch nicht erwacht – aber es hatte gerade einen ebenso flüchtigen wie kostbaren Moment der Erinnerung.