Ein Familiengeheimnis
Ich war schon etwas älter, vermutlich Mitte Zwanzig, als meine Mama mir von der Evakuierung erzählte.
Zum Zeitpunkt der schlimmsten Jahre des Zweiten Weltkrieges war sie selbst ein kleines Mädchen von vielleicht zehn, elf Jahren. Ihr Vater, mein Großvater, war im Widerstand gewesen. In meiner Familie gab es keine Nazis, die meisten waren stolz auf ihr SPD-Parteibuch. Meine direkten Ahnen hatten noch Parteibücher aus der Gründungszeit dieser Partei.
Meine Familie, im direkten Sinne also die Großväter, hatte also keine Erblast mit sich herumzuschleppen, was mich, nachdem wir in der Schule ausführlich das Dritte Reich behandelt hatten, doch sehr erleichterte. Natürlich gab es den einen oder anderen Verwandten, der damals bei Familientreffen auf meine Nachfragen erläuterte, es sei ja nicht alles schlecht gewesen, die berühmte Autobahn meinend. Nun gut, das gehörte zum Narrativ, ich war nicht zufrieden damit, aber immerhin hatte ja der entsprechende Verwandte diese Zeit erlebt - und ich nicht. Es war die Zeit, als man noch nicht in Sippenhaft geraten konnte wegen solcher, natürlich völlig unreflektierter, Äußerungen.
Aber ich will auf die Evakuierung zurückkommen. Meine Großmutter lebte damals mit meiner Mutter und deren Geschwistern direkt am Rheinufer, in der Nähe einer strategisch bedeutsamen großen Brücke, die auch fleißig bombardiert wurde. Der Vater meiner Mutter befand sich gerade in Kriegsgefangenschaft in Frankreich, er hatte Glück im Unglück, denn er wurde dort als Bediensteter des Bürgermeisters relativ gut behandelt und hat aus jener Zeit die Gewohnheit stets beibehalten, aus einer boule genannten Schüssel Milchkaffee zu frühstücken und sich gegen vier oder fünf Uhr eine Flasche Cote du Rhone zu öffnen. Mein Großvater war ein wunderbarer Mann, ein Jäger und dabei Tierfreund. Meine Mutter wuchs praktisch mit kleinen Kitzen und Wildschweinchen auf, die er in Obhut genommen hatte. Und er prügelte sich mit den Dorfnazis, aber das war natürlich vor meiner Zeit.
Jedenfalls also, aufgrund der Bombenangriffe wurde die Mutter meiner Mutter und die Familie evakuiert, und zwar ins Mainfränkische bei Aschaffenburg.
Und da kam die junge Frau, deren Mann in Frankreich zunächst als verschollen galt, mit sechs kleinen Kindern auf einem LKW an. Eines davon war meine Mutter. Und vor dem LKW hatten sich lauter wackere Mainfranken versammelt und schrien und pöbelten und spuckten die Kinder an. Meine Familie galt wegen der Nähe zu Frankreich nämlich als "Stockfranzosen".
(Ich will damit nichts gegen Mainfranken gesagt haben, es war halt einfach nun mal so.)
Und als es endlich irgendwie möglich war, von diesem LKW runterzukommen, bekamen sie ein Quartier bei mainfränkischen Bauersleuten zugewiesen. Die nun wiederum waren so bösartig und machten der Mutter meiner Mutter das Leben so unendlich schwer, dass eines Tages meine Mama ihre Mutter suchen ging, sie war nicht mehr aufzufinden.
Meine Mama hat ihre Mutter letztlich gefunden: Auf dem Dachboden des Hauses, auf einem Stuhl stehend und sich eine Schlinge um den Hals legend.
Wie es ihr gelang, ihre Mutter in letzter Sekunde von dieser Tat abzuhalten, hat sie mir nicht erzählt.
Aber es gelang ihr und sie hat diese Geschichte ihren Geschwistern niemals erzählt.
Nur mir.
Und ich erzähle es hier.
Denn die Gemeinheit der Menschen, insbesondere, wenn sie als Pöbel in Massen auftreten, aber auch sonst, wenn ihnen Schutzbedürftige übergeklappert werden, die nicht aus ihrer Region stammen, ja, es handelte sich doch schließlich um Deutsche, ist unvorstellbar.
Gäbe es nicht das Christentum, der Glaube an den Erlöser, der Glaube an die Liebe und die Hoffnung, an das Gute, das Wahre und das Schöne - die Welt wäre rettungslos verloren.
Der Mensch ist des Menschen Wolf - daran hat sich jedoch leider auch seit Christi Geburt nicht viel geändert.
Zum Zeitpunkt der schlimmsten Jahre des Zweiten Weltkrieges war sie selbst ein kleines Mädchen von vielleicht zehn, elf Jahren. Ihr Vater, mein Großvater, war im Widerstand gewesen. In meiner Familie gab es keine Nazis, die meisten waren stolz auf ihr SPD-Parteibuch. Meine direkten Ahnen hatten noch Parteibücher aus der Gründungszeit dieser Partei.
Meine Familie, im direkten Sinne also die Großväter, hatte also keine Erblast mit sich herumzuschleppen, was mich, nachdem wir in der Schule ausführlich das Dritte Reich behandelt hatten, doch sehr erleichterte. Natürlich gab es den einen oder anderen Verwandten, der damals bei Familientreffen auf meine Nachfragen erläuterte, es sei ja nicht alles schlecht gewesen, die berühmte Autobahn meinend. Nun gut, das gehörte zum Narrativ, ich war nicht zufrieden damit, aber immerhin hatte ja der entsprechende Verwandte diese Zeit erlebt - und ich nicht. Es war die Zeit, als man noch nicht in Sippenhaft geraten konnte wegen solcher, natürlich völlig unreflektierter, Äußerungen.
Aber ich will auf die Evakuierung zurückkommen. Meine Großmutter lebte damals mit meiner Mutter und deren Geschwistern direkt am Rheinufer, in der Nähe einer strategisch bedeutsamen großen Brücke, die auch fleißig bombardiert wurde. Der Vater meiner Mutter befand sich gerade in Kriegsgefangenschaft in Frankreich, er hatte Glück im Unglück, denn er wurde dort als Bediensteter des Bürgermeisters relativ gut behandelt und hat aus jener Zeit die Gewohnheit stets beibehalten, aus einer boule genannten Schüssel Milchkaffee zu frühstücken und sich gegen vier oder fünf Uhr eine Flasche Cote du Rhone zu öffnen. Mein Großvater war ein wunderbarer Mann, ein Jäger und dabei Tierfreund. Meine Mutter wuchs praktisch mit kleinen Kitzen und Wildschweinchen auf, die er in Obhut genommen hatte. Und er prügelte sich mit den Dorfnazis, aber das war natürlich vor meiner Zeit.
Jedenfalls also, aufgrund der Bombenangriffe wurde die Mutter meiner Mutter und die Familie evakuiert, und zwar ins Mainfränkische bei Aschaffenburg.
Und da kam die junge Frau, deren Mann in Frankreich zunächst als verschollen galt, mit sechs kleinen Kindern auf einem LKW an. Eines davon war meine Mutter. Und vor dem LKW hatten sich lauter wackere Mainfranken versammelt und schrien und pöbelten und spuckten die Kinder an. Meine Familie galt wegen der Nähe zu Frankreich nämlich als "Stockfranzosen".
(Ich will damit nichts gegen Mainfranken gesagt haben, es war halt einfach nun mal so.)
Und als es endlich irgendwie möglich war, von diesem LKW runterzukommen, bekamen sie ein Quartier bei mainfränkischen Bauersleuten zugewiesen. Die nun wiederum waren so bösartig und machten der Mutter meiner Mutter das Leben so unendlich schwer, dass eines Tages meine Mama ihre Mutter suchen ging, sie war nicht mehr aufzufinden.
Meine Mama hat ihre Mutter letztlich gefunden: Auf dem Dachboden des Hauses, auf einem Stuhl stehend und sich eine Schlinge um den Hals legend.
Wie es ihr gelang, ihre Mutter in letzter Sekunde von dieser Tat abzuhalten, hat sie mir nicht erzählt.
Aber es gelang ihr und sie hat diese Geschichte ihren Geschwistern niemals erzählt.
Nur mir.
Und ich erzähle es hier.
Denn die Gemeinheit der Menschen, insbesondere, wenn sie als Pöbel in Massen auftreten, aber auch sonst, wenn ihnen Schutzbedürftige übergeklappert werden, die nicht aus ihrer Region stammen, ja, es handelte sich doch schließlich um Deutsche, ist unvorstellbar.
Gäbe es nicht das Christentum, der Glaube an den Erlöser, der Glaube an die Liebe und die Hoffnung, an das Gute, das Wahre und das Schöne - die Welt wäre rettungslos verloren.
Der Mensch ist des Menschen Wolf - daran hat sich jedoch leider auch seit Christi Geburt nicht viel geändert.
ElsaLaska - 20. Feb, 16:04
Melancholia - - 0 Trackbacks - 1710x gelesen
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