Zum heutigen ersten Gedenktag der heiligen Anna Schäffer
veröffentliche ich meinen Beitrag über die "Macht der Mystikerinnen", der sich allgemein mit dem Phänomen beschäftigt und insbesondere auf die Heiligsprechung Annas eingeht. Er stammt vom 20. Oktober 2012 und ist zuerst in der Tagespost erschienen.
Die Macht der Mystikerinnen
von Barbara Wenz
Die Worte „mittelalterlich“ und „Frauenmystik“ scheinen zumindest für die Internetsuchmaschine Google so gut wie unzertrennlich zu sein. Tatsächlich erlebte die
Frauenmystik gerade im Hochmittelalter in Form des Berichtens über subjektive religiöse Erfahrungen mit einer überpersonalen, vom Alltagsbewusstsein völlig losgelösten göttlichen Wirklichkeit eine regelrechte Blüte. Dies war möglich geworden durch einen grundstürzenden spirituellen Umbruch: Der relativ unpersönliche Christus Rex, Herrscher über Erdkugel und Kosmos, dargestellt auf dem Thron mit dem Attribut einer Königskrone, von einem Glorienschein umgeben, wie er vornehmlich noch in der romanischen Ikonografie auftaucht, wurde abgelöst vom Schmerzensmann der Gotik. Der Leidensheiland geriet zunehmend in den Blick: gequält bis aufs Blut, nackt, mit grausam überdehnten Gliedern ans Kreuz geschlagen und sich aus Liebe zu uns Menschen ergeben hinschenkend. Insbesondere – aber nicht nur – Frauen, wurden von dieser neuen Sichtweise auf den leidenden Erlöser, dessen angenagelten Füße am Kreuz man geistig umfassen konnte, mehr angesprochen als von dem entrückten kosmischen Weltenherrscher auf dem Sternenthron.
Es war eine glückseliger, eine wahrhaftiger Rückgriff auf das Evangelium selbst: Schon immer waren es Frauen gewesen, die sich dem Herrn mit großartiger Liebesfähigkeit, absoluter Selbstzurücknahme, hörend und horchend, dienend und zärtlich aufnahmen, nachfolgten und nicht mehr von der Seite wichen. Deshalb und dafür hat Jesus die Frauen in seinem Gefolge besonders geschätzt und geliebt.
Der Verdienst, diese besondere Form der Liebesnachfolge wieder entdeckt zu haben, gebührt dabei einem Mann, dem heiligen Franziskus von Assisi, zusammen mit seiner geistlichen Freundin, der heiligen Clara. Spätestens um das Jahr 1220 übersprang der Funke der franziskanischen Bewegung auch die Alpen und breitete sich in den deutschsprachigen Gebieten aus. Hildegard von Bingen ist zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahrzehnte tot. Viel mehr Prophetin als Mystikerin, setzte sie den Schöpfer des Weltalls und des Erdenrunds, Mensch, Gottvater und menschgewordener Gottessohn mit starkmächtiger Bildsprache wieder in die geoffenbarte Relation – damit die Menschen sich bekehren sollte. Die unio mystica, die bräutliche Verschmelzung ihrer Seele mit dem göttlichen Du war nicht ihr eigentliches Ziel, sondern die Verkündigung des Willens des Schöpfers an die Menschen ihrer Zeit, gleich welchen Standes sie auch waren.
Vom griechischen mystikós herstammend, das „geheimnisvoll“ bedeutet und mit dem Verb myein - „die Augen schließen“ verwandt ist, werden die Zustände von Mysterikern und Mystikerinnen, in denen sie der Realität der Heiligen, Engel, Jesu Christi oder des allmächtigen Schöpfergottes begegnen, bis hin zur bereits genannten unio mystica, häufig, aber nicht immer, von für die beteiligten Zeugen beunruhigenden körperlichen Ekstasen begleitet. Am Ende des dreizehnten Jahrhunderts treffen wir auf eine ganze Phalanx von Mysterikerinnen, die ihre Erfahrungen von sublimster Minne zum göttlichen Bräutigam wie auch die der feurigsten Schmerzen an Seele und Körper in dem Miterleben der Passion des Heilandes in poetisch-dichte Sprache zu gießen wissen; zumeist unterstützt von einem Seelenführer, der ihre Aufzeichnungen anfertigt, betreut und zu ordnen weiß.
In Italien ist das Angela von Foligno, die den Ehrentitel „magistra theologorum“ – Lehrmeisterin der Theologen – führen wird, in Deutschland sind das zu dieser Zeit neben Mechthild von Magdeburg die „drei Gertruden“: Gertrud die Große von Helfta, Gertrud von Hackeborn und Gertrud von Sachsen. Diese seien nur stellvertretend genannt und für die spätere Zeit dürfen freilich nicht Caterina von Siena, Teresa von Avila und all die anderen vergessen werden, die hier nicht umfassend aufgezählt werden können. Natürlich machten auch Männer mystische Erfahrungen, beschrieben diese zur Unterweisung der Gläubigen und zur größeren Ehre Gottes, wie Heinrich Seuse, Meister Eckehard oder später auch Johannes vom Kreuz.
Insbesondere den mittelalterlichen Mysterikerinnen wurden aber während der Zeitenläufte und im Nachgang der modernen Geisteswissenschaften so einiges unterstellt: Die einzige Möglichkeit sei das gewesen, innerhalb patriarchal-dominanter Strukturen einen eigenen Zugang zur persönlichen, spezifisch weiblichen Spiritualität zu erhalten. Oder: es habe sich um pathologische Symptome von unterdrückter Sexualität gehandelt, hysterische Emanationen unbefriedigter Frauen, die sich in einer Art mittelalterlichem Sado-Maso-Kopfkino ergehen würden. So ärgerliche Buchtitel wie „Geschlechtstrieb der Seele“ (Wolfgang Beutin) für eine Untersuchung der Frauenmystik des Mittelalters verdanken wir natürlich dem mittlerweile nicht mehr ganz so aktuellen Ansatz der Psychoanalyse.
Aber zurück zu unseren Mysterikerinnen.
Wie eingangs schon erwähnt, scheint das Phänomen in seiner Breite vor allem mit dem Hoch- und Spätmittelalter verknüpft gewesen zu sein. Es ist wahr, wir haben heutzutage keine breite mystische Bewegung mehr, auf welche die Geisteswissenschaften, angefangen mit der Theologie aufmerksam werden könnten. Aus der jüngeren Zeitgeschichte werden uns auf die Schnelle lediglich Anna Katharina Emmerick oder Therese von Konnersreuth einfallen. Obwohl die Liebesmystik nicht messerscharf von der Leidensmystik zu trennen ist - der mystisch erlebte Herzenstausch mit dem Erlöser ist ein ebenso bräutlich-minnigliches seelisches Erlebnis, wie es gleichzeitig auch schmerzhaft durchlebt wird - so fällt doch bei diesen Beispielen auf, dass sich der Schwerpunkt verlagert zu haben scheint: Beide Frauen litten unter schweren und schmerzhaften körperlichen Beeinträchtigungen - Emmerick konnte sich kaum von ihrem Lager erheben – beide Frauen trugen Stigmata, die Wundmale unseres Herrn und Erlösers, beide Frauen durchlitten an Freitagen, besonders zu Karfreitag, die Passion Jesu. Beide Frauen opferten diese Leiden für andere Leidende, für die Bekehrung der Sünder, für das Heil der Seelen oder für an sie herangetragene spezielle Anliegen auf.
Als am 7. Oktober 2012 – kurz vor Beginn des „Jahres des Glaubens“ – die heilige Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin erhoben wurde, war dies die Würdigung einer kraftvollen Prophetin, hinter deren bildmächtige Visionen sich ein ganzes, in ebenso leuchtenden wie satten Farben gemaltes theologisches Gebäude verbarg, das es nun, insbesondere im Bereich der Neuevangelisierung, zu entdecken gilt.
Am morgigen Sonntag, den 21. Oktober 2012, wird Benedikt die Selige Anna Schäffer aus dem oberbayerischen Mindelstetten heilig sprechen. Beschäftigt man sich mit dem Leben und der Spiritualität von Anna, so fallen wie Parallelen zu Anna Katharina Emmerick sofort ins Auge – nur, dass kein Clemens Brentano an Schäffers Bett saß und eifrig mitnotierte.
Ein erster, oberflächlicher Blick auf den Lebenslauf von Anna Schäffer macht zunächst bestürzt, lässt einen hadern, ja, auch mit Gott. Die Tochter eines Schreinermeisters, am 18. Februar 1882 geboren, war sehr fromm erzogen und wäre am liebsten Missionsschwester geworden. Die Aussteuer für den Eintritt in einen Orden musste sie sich durch niedrige und niedrigste Arbeiten verdienen. Als sie am 4. Februar 1901 versucht, das Ofenrohr in einer Waschküche zu reparieren, fällt sie in einen Bottich mit siedender Waschlauge und kann sich nicht sofort befreien. Das Fleisch an ihren beiden Beinen bis über die Knie wird nie mehr aufhören, sich zu entzünden, zu eitern, zu quälen und zu plagen, so dass sie nachts kaum schlafen kann vor übermächtigen Schmerzen. Auch einige Hauttransplantationen vermögen nichts auszurichten. Hinzu kommt bitterste Armut. Gefesselt auf ihr Krankenlager - gehen kann sie freilich nicht mehr - verbringt Anna noch ganze 24 Jahre, gescheitert in ihren Lebensplänen, angewiesen auf die Mildtätigkeit anderer, bevor sie entkräftet stirbt. Das ist, in wenigen Sätzen und von außen betrachtet, das Schicksal von Anna Schäffer nacherzählt. Beschäftigt man sich jedoch mit der im Jahre 1999 selig gesprochen Mindelstettenerin eingehender, dann füllt sich die Redewendung vom „heroischen Tugendgrad“, die oft bei Selig- und Heiligsprechungen benutzt wird, mit völlig neuer, machtvoller Bedeutung. Inmitten der völligen Auswegslosigkeit, ihres Unvermögens, tätig zu handeln, ihres Gekreuzigt-Seins an ihr Schmerzenlager, entwickelte die Selige Anna Schäffer, betreut von ihrem Seelenführer Pfarrer Carl Rieger, ein durchstrukturiertes geistliches Programm, welches sie selbst in dieser verzweifelten Lage hoffnungsfroh, begeistert und glaubensfest bewältigen konnte – ihr Anker im Angesicht eines Martyriums, das manchen ihrer Zeitgenossen so sinnlos erschien, dass man Anna hinter vorgehaltener Hand als reine Last und überflüssige Bürde bezeichnete. Doch sie erhielt auch viel Unterstützung und Hilfe. Ihr Krankenbett war so ausgerichtet, dass sie auf die Kirche schauen und sich so im Geiste das Tabernakel vergegenwärtigen konnte. In der Nacht, wenn sie vor Schmerzen nicht schlafen konnte, bereitete sie sich auf die Heilige Kommunion vor, die ihr treulich von Pfarrer Rieger an jedem Morgen, an dem es möglich war, gebracht wurde. Sie fertigte Handarbeiten für die Kirche an, schrieb in ihren Traumheften über Begegnungen mit verschiedenen Heiligen, und sie empfing eines Tages, während ihr die Eucharistie gereicht wurde, die Wundmale Christi, so dass zu ihren Schmerzen in den Beinen nun auch noch Schmerzen an den Händen und am Kopf hinzukamen. Auf ihre Bitte hin wurden diese allerdings kurze Zeit darauf wieder unsichtbar. Mit stets heiterem Gemüt pflegte sie eine rege Korrespondenz, ihr „Briefapostolat“, daneben empfing Anna Besucher, die um geistlichen Rat oder Gebet baten. Sie opferte auf, sie schrieb zarte, poetische Gebete und Gedichte, entwarf sich ein geistliches Programm für alle zwölf Monate des Jahres. Verkürzt gesagt, wenn es sich bei der Hl. Hildegard um eine Löwin handelte, dann war die kleine Anna Schäffer das Mäuslein von Mindelstetten. Aber in solchen Maßstäben wird bei Gott und auch in unserer Kirche – Gottseidank! - nicht gedacht. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig!
Dennoch, so könnte man sich fragen, was soll die Heiligsprechung der kleinen Anna Schäffer, die weder kosmische Visionen hatte noch Kaiser oder Päpste zurechtwies, was kann diese Heiligsprechung denn heute für uns bedeuten – im Jahr des Glaubens, im Rahmen der so dringend nötigen Neu-Evangelisierung? Können wir da wirklich ans Bett gefesselte Heilige mit unsichtbaren Wundmalen propagieren? Ihre Leiden, immer nur Leiden und Sühnen und Aufopfern für die Bekehrung und die Sünden anderer? Ist es nicht vielmehr die erlöste Freude mündigen Christseins, das sich in der Welt engagiert, die anziehend wirkt auf Nichtgläubige? Und überhaupt – die Mystikerinnen, was können sie uns denn heute noch sagen?
Am Beispiel der Seligen Anna Schäffer können wir exemplarisch – und für alle Mysterikerinnen und Mystiker gleichermaßen gültig – aufzeigen, wie wichtig diese nur scheinbar unzeitgemäßen Feuerlilien im Garten Gottes für unsere Zeit, für das Jahr des Glaubens, für die Neuevangelisierung Europas tatsächlich sind.
Zunächst imponiert die absolute Zuversicht, mit der Anna Schäffer ihr grausames Los annahm, das Wissen darum, dass es ihr – und auch anderen – zum Heil gereichen würde. Dieses Annehmen durchflutete ihren innersten Wesenskern mit solcher Intensität, dass sie täglich ausrufen konnte: „ Mein Gott ich danke Dir – mein Gott ich liebe Dich!“.
Zuversicht und der Lobpreis Gottes, wie schwer fällt uns das doch selbst so oft, schon bei den kleinsten Unannehmlichkeiten, die wir erleben, und um wie viel schwerer ist das, wenn uns ein Schicksalsschlag trifft. Genau dies ist schon der Kern der Sendung, der Botschaft, den wir, indem wir uns ein Beispiel nehmen, weitergeben können. Und sei es „nur“ an den Bettnachbarn im Krankenhaus, wenn wir einsam sind und niemand uns besucht.
Von ihrem Leidenslager aus schrieb Anna ermutigende Briefe an Hilfesuchende und Freunde, sie empfing Besucher ohne zu klagen, sondern hörte sich deren Klagen mit tiefempfundenem Mitgefühl an, konnte ein gutes Wort geben, das stützte und aufrichtete. Sie empfing jeden Tag in der Krankenkommunion Jesus Christus, von dem sie sagte: Sonne meines Lebens! Der Heiland war ihr Zentralgestirn, zu dem sie nicht nur aufschaute, sondern den sie auch durch das heilige Sakrament empfangen und in sich wohnen lassen konnte. Dies kann uns ein Ansporn sein, unsere eigene Haltung zur Heiligen Kommunion neu zu überdenken, auch ohne gleich in mystische Höhen hinaufzusteigen. Versuchen wir doch, mit der seligen Anna zu bekennen: „Meine größte Stärke ist die heilige Kommunion!“
Schließlich ist das Leben und das Zeugnis der Anna Schäffer ein Erweis der Sehnsucht Gottes nach dem Menschen: Er will uns auch in dunkelster Nacht, in den Stunden, in denen wir denken, nun ist alles zu Ende, nicht loslassen, sondern unsere Sonne sein. Er will, dass wir die Wolken in unserer Seele, unseres Selbstmitleids und unserer Verzweiflung vertreiben, die hindern, ihn als unsere Sonne zu sehen. Jesus Christus – Sonne meines Lebens! In diesem Ausruf der Seligen Anna Schäffer wird die Kraft Gottes wahrhaftig in einer Schwachen mächtig.
Unsere Mystikerinnen – das sind eben keine abgehobenen, neurotischen Klosterfrauen, keine hilflosen Schmerzensbündel im Stahlbad ihres ärmlichen Krankenlagers. Sie sind sprühende Energie, Gottesbeweis und Erweis seiner Liebe in einem. Und somit – vielleicht unerreichbares, aber befeuerndes – Vorbild und Kraftquelle für jede Frau und jedermann.
Lektüreempfehlungen zu Anna Schäffer:
Anna Schäffer – Vorbild der Kranken, Leidenden und Armen. Eine Kurzbiografie von Domvikar Msgr. Georg Franz X. Schwager. Verlag Schnell & Steiner. ISBN 978-3-7954-2629-3
Anna Schäffer – Gedanken und Erinnerungen meines Krankenlebens und meine Sehnsucht nach der ewigen Heimat. Verlag Schnell & Steiner.
Emmeram H. Ritter: Anna Schäffer. Eine Selige aus Bayern. Verlag Schnell & Steiner. ISBN 978-3-7954-2545-6
Für Interessenten an der Tagespost darf ich drauf hinweisen, dass es für nur 14 Euro möglich ist, ein Onlineabo (herunterladbare pdf) für einen Monat zu bestellen.
Die Macht der Mystikerinnen
von Barbara Wenz
Die Worte „mittelalterlich“ und „Frauenmystik“ scheinen zumindest für die Internetsuchmaschine Google so gut wie unzertrennlich zu sein. Tatsächlich erlebte die
Frauenmystik gerade im Hochmittelalter in Form des Berichtens über subjektive religiöse Erfahrungen mit einer überpersonalen, vom Alltagsbewusstsein völlig losgelösten göttlichen Wirklichkeit eine regelrechte Blüte. Dies war möglich geworden durch einen grundstürzenden spirituellen Umbruch: Der relativ unpersönliche Christus Rex, Herrscher über Erdkugel und Kosmos, dargestellt auf dem Thron mit dem Attribut einer Königskrone, von einem Glorienschein umgeben, wie er vornehmlich noch in der romanischen Ikonografie auftaucht, wurde abgelöst vom Schmerzensmann der Gotik. Der Leidensheiland geriet zunehmend in den Blick: gequält bis aufs Blut, nackt, mit grausam überdehnten Gliedern ans Kreuz geschlagen und sich aus Liebe zu uns Menschen ergeben hinschenkend. Insbesondere – aber nicht nur – Frauen, wurden von dieser neuen Sichtweise auf den leidenden Erlöser, dessen angenagelten Füße am Kreuz man geistig umfassen konnte, mehr angesprochen als von dem entrückten kosmischen Weltenherrscher auf dem Sternenthron.
Es war eine glückseliger, eine wahrhaftiger Rückgriff auf das Evangelium selbst: Schon immer waren es Frauen gewesen, die sich dem Herrn mit großartiger Liebesfähigkeit, absoluter Selbstzurücknahme, hörend und horchend, dienend und zärtlich aufnahmen, nachfolgten und nicht mehr von der Seite wichen. Deshalb und dafür hat Jesus die Frauen in seinem Gefolge besonders geschätzt und geliebt.
Der Verdienst, diese besondere Form der Liebesnachfolge wieder entdeckt zu haben, gebührt dabei einem Mann, dem heiligen Franziskus von Assisi, zusammen mit seiner geistlichen Freundin, der heiligen Clara. Spätestens um das Jahr 1220 übersprang der Funke der franziskanischen Bewegung auch die Alpen und breitete sich in den deutschsprachigen Gebieten aus. Hildegard von Bingen ist zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahrzehnte tot. Viel mehr Prophetin als Mystikerin, setzte sie den Schöpfer des Weltalls und des Erdenrunds, Mensch, Gottvater und menschgewordener Gottessohn mit starkmächtiger Bildsprache wieder in die geoffenbarte Relation – damit die Menschen sich bekehren sollte. Die unio mystica, die bräutliche Verschmelzung ihrer Seele mit dem göttlichen Du war nicht ihr eigentliches Ziel, sondern die Verkündigung des Willens des Schöpfers an die Menschen ihrer Zeit, gleich welchen Standes sie auch waren.
Vom griechischen mystikós herstammend, das „geheimnisvoll“ bedeutet und mit dem Verb myein - „die Augen schließen“ verwandt ist, werden die Zustände von Mysterikern und Mystikerinnen, in denen sie der Realität der Heiligen, Engel, Jesu Christi oder des allmächtigen Schöpfergottes begegnen, bis hin zur bereits genannten unio mystica, häufig, aber nicht immer, von für die beteiligten Zeugen beunruhigenden körperlichen Ekstasen begleitet. Am Ende des dreizehnten Jahrhunderts treffen wir auf eine ganze Phalanx von Mysterikerinnen, die ihre Erfahrungen von sublimster Minne zum göttlichen Bräutigam wie auch die der feurigsten Schmerzen an Seele und Körper in dem Miterleben der Passion des Heilandes in poetisch-dichte Sprache zu gießen wissen; zumeist unterstützt von einem Seelenführer, der ihre Aufzeichnungen anfertigt, betreut und zu ordnen weiß.
In Italien ist das Angela von Foligno, die den Ehrentitel „magistra theologorum“ – Lehrmeisterin der Theologen – führen wird, in Deutschland sind das zu dieser Zeit neben Mechthild von Magdeburg die „drei Gertruden“: Gertrud die Große von Helfta, Gertrud von Hackeborn und Gertrud von Sachsen. Diese seien nur stellvertretend genannt und für die spätere Zeit dürfen freilich nicht Caterina von Siena, Teresa von Avila und all die anderen vergessen werden, die hier nicht umfassend aufgezählt werden können. Natürlich machten auch Männer mystische Erfahrungen, beschrieben diese zur Unterweisung der Gläubigen und zur größeren Ehre Gottes, wie Heinrich Seuse, Meister Eckehard oder später auch Johannes vom Kreuz.
Insbesondere den mittelalterlichen Mysterikerinnen wurden aber während der Zeitenläufte und im Nachgang der modernen Geisteswissenschaften so einiges unterstellt: Die einzige Möglichkeit sei das gewesen, innerhalb patriarchal-dominanter Strukturen einen eigenen Zugang zur persönlichen, spezifisch weiblichen Spiritualität zu erhalten. Oder: es habe sich um pathologische Symptome von unterdrückter Sexualität gehandelt, hysterische Emanationen unbefriedigter Frauen, die sich in einer Art mittelalterlichem Sado-Maso-Kopfkino ergehen würden. So ärgerliche Buchtitel wie „Geschlechtstrieb der Seele“ (Wolfgang Beutin) für eine Untersuchung der Frauenmystik des Mittelalters verdanken wir natürlich dem mittlerweile nicht mehr ganz so aktuellen Ansatz der Psychoanalyse.
Aber zurück zu unseren Mysterikerinnen.
Wie eingangs schon erwähnt, scheint das Phänomen in seiner Breite vor allem mit dem Hoch- und Spätmittelalter verknüpft gewesen zu sein. Es ist wahr, wir haben heutzutage keine breite mystische Bewegung mehr, auf welche die Geisteswissenschaften, angefangen mit der Theologie aufmerksam werden könnten. Aus der jüngeren Zeitgeschichte werden uns auf die Schnelle lediglich Anna Katharina Emmerick oder Therese von Konnersreuth einfallen. Obwohl die Liebesmystik nicht messerscharf von der Leidensmystik zu trennen ist - der mystisch erlebte Herzenstausch mit dem Erlöser ist ein ebenso bräutlich-minnigliches seelisches Erlebnis, wie es gleichzeitig auch schmerzhaft durchlebt wird - so fällt doch bei diesen Beispielen auf, dass sich der Schwerpunkt verlagert zu haben scheint: Beide Frauen litten unter schweren und schmerzhaften körperlichen Beeinträchtigungen - Emmerick konnte sich kaum von ihrem Lager erheben – beide Frauen trugen Stigmata, die Wundmale unseres Herrn und Erlösers, beide Frauen durchlitten an Freitagen, besonders zu Karfreitag, die Passion Jesu. Beide Frauen opferten diese Leiden für andere Leidende, für die Bekehrung der Sünder, für das Heil der Seelen oder für an sie herangetragene spezielle Anliegen auf.
Als am 7. Oktober 2012 – kurz vor Beginn des „Jahres des Glaubens“ – die heilige Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin erhoben wurde, war dies die Würdigung einer kraftvollen Prophetin, hinter deren bildmächtige Visionen sich ein ganzes, in ebenso leuchtenden wie satten Farben gemaltes theologisches Gebäude verbarg, das es nun, insbesondere im Bereich der Neuevangelisierung, zu entdecken gilt.
Am morgigen Sonntag, den 21. Oktober 2012, wird Benedikt die Selige Anna Schäffer aus dem oberbayerischen Mindelstetten heilig sprechen. Beschäftigt man sich mit dem Leben und der Spiritualität von Anna, so fallen wie Parallelen zu Anna Katharina Emmerick sofort ins Auge – nur, dass kein Clemens Brentano an Schäffers Bett saß und eifrig mitnotierte.
Ein erster, oberflächlicher Blick auf den Lebenslauf von Anna Schäffer macht zunächst bestürzt, lässt einen hadern, ja, auch mit Gott. Die Tochter eines Schreinermeisters, am 18. Februar 1882 geboren, war sehr fromm erzogen und wäre am liebsten Missionsschwester geworden. Die Aussteuer für den Eintritt in einen Orden musste sie sich durch niedrige und niedrigste Arbeiten verdienen. Als sie am 4. Februar 1901 versucht, das Ofenrohr in einer Waschküche zu reparieren, fällt sie in einen Bottich mit siedender Waschlauge und kann sich nicht sofort befreien. Das Fleisch an ihren beiden Beinen bis über die Knie wird nie mehr aufhören, sich zu entzünden, zu eitern, zu quälen und zu plagen, so dass sie nachts kaum schlafen kann vor übermächtigen Schmerzen. Auch einige Hauttransplantationen vermögen nichts auszurichten. Hinzu kommt bitterste Armut. Gefesselt auf ihr Krankenlager - gehen kann sie freilich nicht mehr - verbringt Anna noch ganze 24 Jahre, gescheitert in ihren Lebensplänen, angewiesen auf die Mildtätigkeit anderer, bevor sie entkräftet stirbt. Das ist, in wenigen Sätzen und von außen betrachtet, das Schicksal von Anna Schäffer nacherzählt. Beschäftigt man sich jedoch mit der im Jahre 1999 selig gesprochen Mindelstettenerin eingehender, dann füllt sich die Redewendung vom „heroischen Tugendgrad“, die oft bei Selig- und Heiligsprechungen benutzt wird, mit völlig neuer, machtvoller Bedeutung. Inmitten der völligen Auswegslosigkeit, ihres Unvermögens, tätig zu handeln, ihres Gekreuzigt-Seins an ihr Schmerzenlager, entwickelte die Selige Anna Schäffer, betreut von ihrem Seelenführer Pfarrer Carl Rieger, ein durchstrukturiertes geistliches Programm, welches sie selbst in dieser verzweifelten Lage hoffnungsfroh, begeistert und glaubensfest bewältigen konnte – ihr Anker im Angesicht eines Martyriums, das manchen ihrer Zeitgenossen so sinnlos erschien, dass man Anna hinter vorgehaltener Hand als reine Last und überflüssige Bürde bezeichnete. Doch sie erhielt auch viel Unterstützung und Hilfe. Ihr Krankenbett war so ausgerichtet, dass sie auf die Kirche schauen und sich so im Geiste das Tabernakel vergegenwärtigen konnte. In der Nacht, wenn sie vor Schmerzen nicht schlafen konnte, bereitete sie sich auf die Heilige Kommunion vor, die ihr treulich von Pfarrer Rieger an jedem Morgen, an dem es möglich war, gebracht wurde. Sie fertigte Handarbeiten für die Kirche an, schrieb in ihren Traumheften über Begegnungen mit verschiedenen Heiligen, und sie empfing eines Tages, während ihr die Eucharistie gereicht wurde, die Wundmale Christi, so dass zu ihren Schmerzen in den Beinen nun auch noch Schmerzen an den Händen und am Kopf hinzukamen. Auf ihre Bitte hin wurden diese allerdings kurze Zeit darauf wieder unsichtbar. Mit stets heiterem Gemüt pflegte sie eine rege Korrespondenz, ihr „Briefapostolat“, daneben empfing Anna Besucher, die um geistlichen Rat oder Gebet baten. Sie opferte auf, sie schrieb zarte, poetische Gebete und Gedichte, entwarf sich ein geistliches Programm für alle zwölf Monate des Jahres. Verkürzt gesagt, wenn es sich bei der Hl. Hildegard um eine Löwin handelte, dann war die kleine Anna Schäffer das Mäuslein von Mindelstetten. Aber in solchen Maßstäben wird bei Gott und auch in unserer Kirche – Gottseidank! - nicht gedacht. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig!
Dennoch, so könnte man sich fragen, was soll die Heiligsprechung der kleinen Anna Schäffer, die weder kosmische Visionen hatte noch Kaiser oder Päpste zurechtwies, was kann diese Heiligsprechung denn heute für uns bedeuten – im Jahr des Glaubens, im Rahmen der so dringend nötigen Neu-Evangelisierung? Können wir da wirklich ans Bett gefesselte Heilige mit unsichtbaren Wundmalen propagieren? Ihre Leiden, immer nur Leiden und Sühnen und Aufopfern für die Bekehrung und die Sünden anderer? Ist es nicht vielmehr die erlöste Freude mündigen Christseins, das sich in der Welt engagiert, die anziehend wirkt auf Nichtgläubige? Und überhaupt – die Mystikerinnen, was können sie uns denn heute noch sagen?
Am Beispiel der Seligen Anna Schäffer können wir exemplarisch – und für alle Mysterikerinnen und Mystiker gleichermaßen gültig – aufzeigen, wie wichtig diese nur scheinbar unzeitgemäßen Feuerlilien im Garten Gottes für unsere Zeit, für das Jahr des Glaubens, für die Neuevangelisierung Europas tatsächlich sind.
Zunächst imponiert die absolute Zuversicht, mit der Anna Schäffer ihr grausames Los annahm, das Wissen darum, dass es ihr – und auch anderen – zum Heil gereichen würde. Dieses Annehmen durchflutete ihren innersten Wesenskern mit solcher Intensität, dass sie täglich ausrufen konnte: „ Mein Gott ich danke Dir – mein Gott ich liebe Dich!“.
Zuversicht und der Lobpreis Gottes, wie schwer fällt uns das doch selbst so oft, schon bei den kleinsten Unannehmlichkeiten, die wir erleben, und um wie viel schwerer ist das, wenn uns ein Schicksalsschlag trifft. Genau dies ist schon der Kern der Sendung, der Botschaft, den wir, indem wir uns ein Beispiel nehmen, weitergeben können. Und sei es „nur“ an den Bettnachbarn im Krankenhaus, wenn wir einsam sind und niemand uns besucht.
Von ihrem Leidenslager aus schrieb Anna ermutigende Briefe an Hilfesuchende und Freunde, sie empfing Besucher ohne zu klagen, sondern hörte sich deren Klagen mit tiefempfundenem Mitgefühl an, konnte ein gutes Wort geben, das stützte und aufrichtete. Sie empfing jeden Tag in der Krankenkommunion Jesus Christus, von dem sie sagte: Sonne meines Lebens! Der Heiland war ihr Zentralgestirn, zu dem sie nicht nur aufschaute, sondern den sie auch durch das heilige Sakrament empfangen und in sich wohnen lassen konnte. Dies kann uns ein Ansporn sein, unsere eigene Haltung zur Heiligen Kommunion neu zu überdenken, auch ohne gleich in mystische Höhen hinaufzusteigen. Versuchen wir doch, mit der seligen Anna zu bekennen: „Meine größte Stärke ist die heilige Kommunion!“
Schließlich ist das Leben und das Zeugnis der Anna Schäffer ein Erweis der Sehnsucht Gottes nach dem Menschen: Er will uns auch in dunkelster Nacht, in den Stunden, in denen wir denken, nun ist alles zu Ende, nicht loslassen, sondern unsere Sonne sein. Er will, dass wir die Wolken in unserer Seele, unseres Selbstmitleids und unserer Verzweiflung vertreiben, die hindern, ihn als unsere Sonne zu sehen. Jesus Christus – Sonne meines Lebens! In diesem Ausruf der Seligen Anna Schäffer wird die Kraft Gottes wahrhaftig in einer Schwachen mächtig.
Unsere Mystikerinnen – das sind eben keine abgehobenen, neurotischen Klosterfrauen, keine hilflosen Schmerzensbündel im Stahlbad ihres ärmlichen Krankenlagers. Sie sind sprühende Energie, Gottesbeweis und Erweis seiner Liebe in einem. Und somit – vielleicht unerreichbares, aber befeuerndes – Vorbild und Kraftquelle für jede Frau und jedermann.
Lektüreempfehlungen zu Anna Schäffer:
Anna Schäffer – Vorbild der Kranken, Leidenden und Armen. Eine Kurzbiografie von Domvikar Msgr. Georg Franz X. Schwager. Verlag Schnell & Steiner. ISBN 978-3-7954-2629-3
Anna Schäffer – Gedanken und Erinnerungen meines Krankenlebens und meine Sehnsucht nach der ewigen Heimat. Verlag Schnell & Steiner.
Emmeram H. Ritter: Anna Schäffer. Eine Selige aus Bayern. Verlag Schnell & Steiner. ISBN 978-3-7954-2545-6
Für Interessenten an der Tagespost darf ich drauf hinweisen, dass es für nur 14 Euro möglich ist, ein Onlineabo (herunterladbare pdf) für einen Monat zu bestellen.
ElsaLaska - 5. Okt, 10:50
Danke
Freut mich, vielen Dank!