10. Dezember: Unsere liebe Frau von Loreto.
Zuerst erschienen im Vatican-Magazin Ausgabe Dezember 2011:
Wo die Pforten des Himmels offen stehen. Von Barbara Wenz.
In dem italienischen Reiseführer „101 Dinge, die man ein Mal in seinem Leben in Le Marche getan haben sollte“ – Le Marche nennt sich die Provinz, in der Loreto liegt – wird empfohlen, sich dem Wallfahrtsort zu Fuß zu nähern, am Besten von Süden kommend, und einige Zeit vor der Schwarzen Madonna im Heiligen Haus zu verweilen. Es ist ein weltlicher Reiseführer. Die Aufführung Loretos darin zeigt, dass der Marienwallfahrtsort an der Adria, zweitwichtigster für Italien und einer der bekanntesten der Welt, auch für Touristen – und nicht nur für Pilger - einen eigenen Reiz hat.
Wie der Solitär eines edlen Diadems erhebt sich die auffällige Silhouette der Kirchenkuppel über die madonnenmantelblaue Adria. Alleine der Ausblick vom Felssporn, auf dem die Altstadt von Loreto um das Heiligtum erbaut wurde, ist eine Reise wert. Die Bastion des Kirchenbaues wird vom Norden her vom natürlich gewachsenen Bollwerk des kreidefelsigen Monte Conero beschirmt. An einem sonnigen Tag leuchtet das durchsichtige Lapislazuli des Meeres mit dem dichten Smaragdgrün der Pinienwälder auf dem Conero um die Wette. Drinnen, in der Basilika werden wir diese Edelsteinfarben noch einmal bewundern können – auf den Fresken an den Wänden oder oben in der bemalten Kuppel. Und es wird noch Gold hinzukommen, das Gold der Heiligenscheine, Kronen, Kreuze und Tabernakel in den Kapellen, die das Haus der Heiligen Familie mit seiner Marmorummantelung von Bramante wie ein Perlenkranz umgeben. Dazu kommen Tausende von Votivgaben, teils prächtige silberne Votivherzen, uralte Textilien und Kunstwerke, Modernes wie quietschbunte Trikots von Radrennfahrern, die diese als Dank für einen ersehnten Sieg gestiftet hatten. Unzählige Pokale von Sportvereinen, eine Marmortafel von der italienischen Fliegerstaffel: Unsere liebe Frau von Loreto ist auch Schutzpatronin der Luft-, Ballon- und Raumfahrt. Von Charles Lindbergh wird gesagt, dass er eine kleine Statuette der Muttergottes von Loreto auf seinem Atlantikflug mit sich trug, die Apollo 9 Mission hatte ihre Medaille an Bord.
Auf dem kolonnadenumbauten Vorplatz der Basilika drängen sich Pilgergruppen aus aller Welt um zu singen, zu beten, in der Santa Casa die Heilige Messe zu feiern. Rund vier Millionen konsekrierte Hostien werden in Loreto, das mit Altötting und Nazareth verschwistert ist, pro Jahr ausgeteilt, die Gesamtbesucherzahl beläuft sich auf circa 4,5 Millionen. Doch nicht nur Katholiken pilgern zur Schwarzen Madonna – seit dem Fall des Eisernen Vorhangs kann man hier manchmal Gläubige der orthodoxen Kirchen sehen. Sollte eine solche Gruppe gerade die Basilika betreten, empfiehlt es sich, ihr zu folgen. Wenn man Glück hat, entfaltet sich nämlich ein fast überirdisch anmutendes Geschehen: Wie junge russische Frauen, alle mit verhülltem Haar, angeführt von einem schwarzgekleideten Popen mit goldenem Brustkreuz, vor der Schwarzen Madonna stehen und - unter fortwährendem Bekreuzigen und Verbeugen - in polyphonal schwebenden Stil uralte Marienhymnen anstimmen. Ob Altkirchenslavisch oder Griechisch gesungen, drücken diese Hymnen eine überbordende Freude an und mit der heilige Jungfrau aus: „Freue dich, höher als alle himmlischen Kräfte bist du. Freue dich, alle Chöre der Engel übersteigst du. Freue dich, geehrter bist du als die Cherubim. Freue dich, unvergleichlich herrlicher bist du als die Seraphim. Freue dich, Freude der Engel.“
Überhaupt – die Engel!
Engel haben das Häuschen aus Nazareth durch die Lüfte getragen, und, nach einem Umweg über Dalmatien im Jahre 1294 auf dem damals noch mit Lorbeerbäumen bewachsenen Hügel abgesetzt. Das hat ihnen ein ordentliches Lob von Johann Gottfried Seume eingebracht, der in seinem Reiseaufzeichnungen schriebt: „Die Gegend von Loreto ist ein Paradies von Fruchtbarkeit, und die Engel müssen ganz gescheite Leute gewesen sein, da sie nun einmal das Häuschen im gelobten Land nicht behaupten konnten, dass sie es durch die Luft aus Dalmatien hierher bugsiert haben.“
Auf den Fresken in der Markus-Sakristei lässt Merlozzo da Forli seine bonbonfarbenen Engel in prächtig gefältelten Gewändern und barfuß durch gemalte Fenster hereinschweben. Er hat das meisterhafte Werk um 1493 vollendet. Aus dem selben Jahr stammt der berühmte Logbucheintrag des Christopher Kolumbus, der mit drei Karavellen in einen schweren Sturm geriet. In höchster Not gelobte er der heiligen Gottesmutter zwei Wallfahrten, die er finanzieren werde, die Pilger sollten per Los unter seiner Besatzung ausgewählt werden. Für die erste, ins spanische Guadalupe, fiel das Los auf ihn selbst. Im Logbucheintrag vom 14. Februar 1493 berichtet er weiter:
„Dann wurde noch einmal gelost,denn man wollte auch einen Pilger zur Heiligen Maria von Loreto schicken, das in der Mark Ancona im Kirchenstaat gelegen ist, zu dem Gotteshaus, wo Unsere Liebe Frau viele große Wunder getan hat und immer noch tut, und das Los fiel auf einen Matrosen aus El Puerto de Santa Maria, er hieß Pedro de Villa,und der Admiral versprach, ihm die Reisekosten zu erstatten.“ Ob letztlich wieder die Engel ihre Finger im Spiel hatten? Kolumbus und seine Mannschaft haben diesen schweren Sturm in der Karibik jedenfalls glimpflich überstanden.
Myriaden von niedersteigenden Engeln beim Anblick von Loreto aus der Ferne habe jedenfalls der heilige Joseph von Copertino im Jahre 1657 gesehen - und ist dabei vor schierem Entzücken selber zum Scheunendach eines Bauernhofes hinaufgeschwebt. Auf seine Frage, was für ein himmlischer Ort das denn sein könne, erklärten ihm die Mitreisenden, dass dort das Haus der Heiligen Familie aus Nazareth stünde. Da rief er aus: „Kein Wunder, dass die Engel des Paradieses in so großer Zahl herabsteigen, wenn der Herr des Paradieses dort herabgestiegen ist, um Mensch zu werden. Seht doch, wie dort die göttlichen Erbarmungen herabregnen!“
Doch was steckt nun hinter der frommen Legende vom „Fliegenden Haus“, von Engeln aus dem Heiligen Land herbeigetragen? Ist es möglich, dass sich ausgerechnet in Loreto das Haus befindet, in dem der Erzengel Gabriel der blutjungen, gläubigen Jüdin Maria den englischen Gruß entboten hat? Die Mauern, innerhalb derer die Macht Gottes über die Jungfrau kam, der Heilige Geist sie überschattet hat. Der Sohn des lebendigen Gottes seine Kindheit verbrachte?
Im Jahre 1219 konnte Franziskus von Assisi noch nach Nazareth pilgern, um dort das Haus, in dem das Wort Fleisch geworden ist, zu verehren. Er muss es also zu diesem Zeitpunkt noch vorgefunden haben. Angeblich bauten bereits die ersten Apostel die Wohnkammer mitsamt der Verkündigungsgrotte zu einer Kirche mit einem Altar aus und die Überlieferung besagt, dass die schwarze Madonna aus Zedernholz vom Evangelisten Lukas angefertigt wurde. Der „unbekannte Pilger“ aus Piacenza berichtet für das Jahr 570 jedenfalls: „Das Haus der heiligen Maria ist eine Kirche, und von ihren Kleidern hat man dort viele wohltätige Einflüsse.“ Ricoldo da Montecroce hat es im Jahre 1289 ebenfalls noch gesehen, zwei Jahre vor der geheimnisvollen Translation, und er schreibt dazu, er habe in Nazareth eine Kirche in Trümmern gesehen, doch die Verkündigungskammer sei erhalten geblieben, weil der Herr ein Zeichen für Marias Demut habe setzen wollen.
1291 hatten die Muslime die christlichen Herren endgültig aus dem Heiligen Land vertrieben – vermutlich hat man deshalb die drei Mauern vor der Grotte abgebaut und abtransportiert, da man eine Verwüstung dieses urchristlichen Heiligtums befürchtete. Tatsächlich passen diese Mauern nach ihren Abmessungen genau vor diese Höhle. Ein weiteres, relevantes Indiz dafür, dass das Haus wirklich aus dem Heiligen Land stammt, sind die roten Stoffkreuze, die man bei einer Untersuchung in den 1960er Jahren zwischen den Steinen fand, von je her Abzeichen der Kreuzfahrer ins Heilige Land. Noch mehr Hinweise geben die hebräischen Schriftzeichen und das griechische Graffiti auf den Ziegelsteinen: „O Jesus Christus, Sohn Gottes“.
In einem Artikel von Padre Giuseppe Santarelli mit dem Titel „Nazareth and Loreto. The Grotto and the house of the Madonna“ heißt es, dass der Leibarzt von Leo XIII. und Pius X. im Jahre 1900 unter dem Siegel der Verschwiegenheit an den späteren Bischof von Dijon berichtet, dass er in den Vatikanischen Archiven Dokumente entdeckt habe, die belegten, dass eine vornehme Familie aus Konstantinopel mit Namen Angeli (Engel!) das Häuschen vor den Muslimen gerettet und nach Loreto gebracht hätte, um dort einen Schrein für die Verehrung der Muttergottes zu errichten. Fünf Jahre später habe er diese Information an einen seiner Schüler weitergegeben. Tatsächlich bestätigt dies das Folio 181 genannte Dokument des Codex Chartularium culisanense. Dort geht es um „die heiligen Steine des Hauses der heiligen Jungfrau und Gottesmutter“, die im Jahre 1294 im Besitz von Nikeforo Angeli gewesen seien, dem Herrn von Epirus, heute Albanien, und verwandt mit dem Kaiser von Konstantinopel. Diese „heiligen Steine“ seien zusammen mit einer Marienikone und weiteren kostbaren Gegenständen an Philip von Anjou, den Sohn des Königs von Neapel, gesandt worden, der mit Ithamar, der Tochter von Nikeforo, verlobt war. Die Hochzeit wurde im Oktober 1294 gefeiert. Das passt erstaunlich gut zur lokalen Überlieferung, nach der das Heilige Haus in der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember in Loreto „gelandet“ sei. Ein Brautgeschenk der besonderen Art also, herbeigetragen von den Angeli, den Engeln.
Deshalb wird in Loreto auch noch bis heute die „Translation“ der Santa Casa und das Patronatsfest Unsere liebe Frau von Loreto am 10. Dezember gefeiert, zwei Tage nach dem Hochfest der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau und Gottesmutter Maria am 8. Dezember, das für Italiener eine große Bedeutung zur Eröffnung der vorweihnachtlichen Zeit besitzt: Spätestens jetzt werden Privathäuser, Geschäfte und Straßenzüge mit festlicher Beleuchtung geschmückt.
Auch wenn der Sohn Gottes in Bethlehem, und nicht in Nazareth geboren wurde, so haftet doch dem Heiligtum um die Santa Casa etwas Weihnachtliches an. In diesen Mauern erschien der Verkündigungsengel, hier ist der Sohn des lebendigen Gottes, der Erlöser der Menschheit, ins Fleische empfangen worden, das größte aller Wunder, das sich jemals auf dieser Erde ereignete. Hier ist das Wort Fleisch geworden – Hic verbum caro factum est – bekräftigt die Inschrift auf dem Altar.
Das Häuschen duftet nach dem Öl heiliger Leuchter, sein Inneres ist durchtränkt vom wunderbaren Aroma tiefen Gebets: Menschen aus allen Nationen stehen andächtig staunend, andere zieht es vor Verehrung und Demut auf die Knie. Wieder andere küssen die Ziegelsteine, streichen mit den Fingerspitzen darüber oder lehnen ihre Stirn dagegen – allein mit dem Auge kann man diesen geheimnisvollen Ort nicht erfassen: empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria. Ja, ebenso Ehrfurcht gebietend wie schön ist dieser Ort, das Haus Gottes, an dem die Pforten des Himmels offen stehen!
ElsaLaska - 9. Dez, 23:32
Sternchen!
@ il capitano