Meine Herrn Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst,
liebe Brüder und Schwestern!
Mit großer Freude komme ich zu dieser traditionellen Begegnung mit Ihnen, liebe Mitglieder des Kardinalskollegiums und Vertreter der Römischen Kurie und des Governatorats. Von Herzen begrüße ich jeden einzelnen, angefangen bei Kardinal Angelo Sodano, dem ich für die Worte der Ergebenheit und der Verbundenheit sowie für die freundlichen Glückwünsche danke, die er im Namen aller an mich gerichtet hat. Prope est jam Dominus, venite, adoremus! Wie eine einzige Familie betrachten wir das Geheimnis des Immanuel, des Gott-mit-uns, wie der Kardinal Dekan gesagt hat. Gerne erwidere ich die Glückwünsche und möchte allen, einschließlich der Vertreter des Heiligen Stuhls in aller Welt, aufrichtig danken für den kompetenten und großherzigen Beitrag, den ein jeder für den Vicarius Christi und für die Kirche leistet.
“Excita, Domine, potentiam tuam, et veni” – so und mit ähnlichen Worten betet die Liturgie der Kirche wiederholt in den Tagen des Advents. Es sind Gebete, die wohl in der Zeit des untergehenden Römischen Reiches formuliert worden sind. Die Auflösung der tragenden Ordnungen des Rechts und der moralischen Grundhaltungen, die ihnen Kraft gaben, ließ die Dämme zerbrechen, die bisher das friedliche Miteinander der Menschen geschützt hatten. Eine Welt war im Untergang begriffen. Häufige Naturkatastrophen verstärkten noch diese Erfahrung der Ungeborgenheit. Es war keine Macht in Sicht, die dem hätte Einhalt gebieten können. Um so dringender war der Ruf nach Gottes eigener Macht: daß er komme und die Menschen gegen all diese Drohungen schütze.
“Excita, Domine, potentiam tuam, et veni.” Auch heute haben wir vielfältigen Anlaß, in dieses adventliche Beten der Kirche einzustimmen. Die Welt ist mit all ihren neuen Hoffnungen und Möglichkeiten doch zugleich bedrängt von dem Gefühl, daß der moralische Konsens zerfällt, ohne den die rechtlichen und politischen Strukturen nicht funktionieren, so daß die Kräfte, die zu ihrer Verteidigung aufgeboten werden, zum Mißerfolg verurteilt scheinen.
Excita – das Gebet erinnert an den Ruf zum Herrn, der im sturmgeschüttelten und dem Untergang nahen Boot der Jünger schlief. Als sein Machtwort den Sturm gestillt hatte, tadelte er die Jünger, daß sie so wenig Glauben hatten (Mt 8, 26 par.). Er wollte sagen: In euch selbst hat der Glaube geschlafen. Dasselbe wird er auch zu uns sagen. Auch in uns schläft der Glaube so oft. So bitten wir ihn, daß er uns aus dem Schlaf eines müde gewordenen Glaubens aufwecke und dem Glauben wieder Macht gebe, Berge zu versetzen – das heißt den Dingen der Welt ihre rechte Ordnung zu geben.
“Excita, Domine, potentiam tuam, et veni”: Dieses Adventsgebet ist mir in den großen Bedrängnissen, denen wir im vergangenen Jahr ausgesetzt waren, immer wieder in die Gedanken und auf die Lippen gekommen. Wir hatten mit großer Freude das Jahr des Priestertums begonnen, und wir durften es auch gottlob mit großer Dankbarkeit beenden, obwohl es so ganz anders verlaufen ist, als wir erwartet hatten. Es ist uns Priestern und den Laien, gerade auch jungen Menschen, wieder bewußt geworden, welches Geschenk das Priestertum der katholischen Kirche darstellt, das uns vom Herrn anvertraut worden ist. So ist uns wieder bewußt geworden, wie schön es ist, daß Menschen im Namen Gottes und mit Vollmacht das Wort der Vergebung aussprechen dürfen und so die Welt, das Leben ändern können. Wie schön es ist, daß Menschen das Wort der Verwandlung sprechen dürfen, mit dem der Herr ein Stück Welt in sich hineinzieht und sie so an einer Stelle in ihrer Substanz umwandelt. Wie schön es ist, Menschen vom Herrn her in ihren Freuden und Leiden, in den großen wie in den dunklen Stunden des Lebens beistehen zu dürfen. Wie schön es ist, im Leben nicht dies oder jenes zum Auftrag zu haben, sondern einfach das Menschsein selbst – das Helfen dazu, daß es auf Gott hin offen werde und von Gott her gelebt. Um so mehr waren wir erschüttert, gerade in diesem Jahr in einem Umfang, den wir uns nicht hatten vorstellen können, Fälle von Mißbrauch Minderjähriger durch Priester kennenzulernen, die das Sakrament in sein Gegenteil verkehren, den Menschen in seiner Kindheit – unter dem Deckmantel des Heiligen – zuinnerst verletzen und Schaden für das ganze Leben zufügen.
Mir ist dabei eine Vision der heiligen Hildegard von Bingen in den Sinn gekommen, die in erschütternder Weise das beschreibt, was wir in diesem Jahr erfahren haben. „Im Jahre 1170 nach Christi Geburt lag ich lange krank danieder. Da schaute ich, wach an Körper und Geist, eine Frau von solcher Schönheit, daß Menschengeist es nicht zu fassen vermochte. Ihre Gestalt ragte von der Erde bis zum Himmel. Ihr Antlitz leuchtete von höchstem Glanz. Ihr Auge blickte zum Himmel. Bekleidet war sie mit einem strahlendhellen Gewand aus weißer Seide und einem Mantel, besetzt mit kostbaren Steinen. An den Füßen trug sie Schuhe aus Onyx. Aber ihr Antlitz war mit Staub bestreut, ihr Gewand war an der rechten Seite zerrissen. Auch hatte der Mantel seine erlesene Schönheit verloren, und ihre Schuhe waren von oben her beschmutzt. Mit lauter, klagender Stimme schrie sie zum hohen Himmel hinauf: Horch auf, Himmel; mein Antlitz ist besudelt! Trauere, Erde: mein Kleid ist zerrissen! Erzittere, Abgrund: meine Schuhe sind beschmutzt!
Und weiter sprach sie: Im Herzen des Vaters war ich verborgen, bis der Menschensohn, in Jungfräulichkeit empfangen und geboren, sein Blut vergoß. Mit diesem Blut, als seiner Mitgift, hat er mich sich vermählt.
Die Wundmale meines Bräutigams bleiben frisch und offen, solange die Sündenwunden der Menschen offen sind. Eben dieses Offenbleiben der Wunden Christi ist die Schuld der Priester. Mein Gewand zerreißen sie dadurch, daß sie Übertreter des Gesetzes, des Evangeliums und ihrer Priesterpflicht sind. Meinem Mantel nehmen sie den Glanz, da sie die ihnen auferlegten Vorschriften in allem vernachlässigen. Sie beschmutzen meine Schuhe, da sie die geraden, das heißt die harten und rauhen Wege der Gerechtigkeit nicht einhalten und auch ihren Untergebenen kein gutes Beispiel geben. Dennoch finde ich bei einigen das Leuchten der Wahrheit.
Und ich hörte eine Stimme vom Himmel, die sprach: Dieses Bild stellt die Kirche dar. Deshalb, o Mensch, der du das schaust und die Klageworte hörst, künde es den Priestern, die zur Leitung und Belehrung des Gottesvolkes bestellt sind und denen gleich den Aposteln gesagt wurde: ‚Geht hinaus in die Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!’ (Mk 16, 15)“ (Brief an Werner von Kirchheim und an seine Priestergemeinschaft: PL 197, 269ff).
Das Gesicht der Kirche ist in der Vision der heiligen Hildegard mit Staub bedeckt, und so haben wir es gesehen. Ihr Gewand ist zerrissen - durch die Schuld der Priester. So, wie sie es gesehen und gesagt hat, haben wir es in diesem Jahr erlebt. Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. Nur die Wahrheit rettet. Wir müssen fragen, was wir tun können, um geschehenes Unrecht so weit wie möglich gutzumachen. Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, daß solches geschehen konnte. Wir müssen zu einer neuen Entschiedenheit des Glaubens und des Guten finden. Wir müssen zur Buße fähig sein. Wir müssen uns mühen, in der Vorbereitung zum Priestertum alles zu versuchen, damit solches nicht wieder geschehen kann. Es ist dies auch der Ort, all denen von Herzen zu danken, die sich einsetzen, den Opfern zu helfen und ihnen das Vertrauen zur Kirche, die Fähigkeit, ihrer Botschaft zu glauben, wiederzuschenken. Bei meinen Begegnungen mit Opfern dieser Sünde habe ich immer auch Menschen getroffen, die mit großer Hingabe den Leidenden und Geschädigten zur Seite stehen. Es ist Anlaß, dabei auch den vielen guten Priestern zu danken, die die Güte des Herrn in Demut und Treue weitertragen und mitten in den Zerstörungen Zeugen sind für die unverlorene Schönheit des Priestertums.
Der besonderen Schwere dieser Sünde von Priestern und unserer entsprechenden Verantwortung sind wir uns bewußt. Aber wir können auch nicht schweigen über den Kontext unserer Zeit, in dem diese Vorgänge zu sehen sind. Es gibt einen Markt der Kinderpornographie, der irgendwie von der Gesellschaft immer mehr als etwas Selbstverständliches angesehen zu werden scheint. Die seelische Zerstörung der Kinder, in der Menschen zum Marktartikel gemacht werden, ist ein erschreckendes Zeichen der Zeit. Von Bischöfen aus den Ländern der Dritten Welt höre ich immer wieder, wie der Sextourismus eine ganze Generation bedroht und sie in ihrer Freiheit und Menschenwürde beschädigt. Die Apokalypse des heiligen Johannes rechnet es unter die großen Sünden Babylons, das heißt der gottlosen Riesenstädte der Welt, daß sie mit Leibern und mit Seelen Handel treiben und sie zur Ware machen (Apk 18, 13). In diesem Zusammenhang steht auch das Problem der Droge, die mit wachsender Gewalt ihre Polypenarme um den Erdball streckt – sichtbarer Ausdruck der Diktatur des Mammons, der den Menschen pervertiert. Alle Lust wird zu wenig, und die Übersteigerung in der Lüge des Rausches wird zur Gewalt, die ganze Regionen zerfleischt und dies im Namen eines fatalen Mißverständnisses von Freiheit, bei dem gerade die Freiheit des Menschen untergraben und schließlich vollends aufgelöst wird.
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