In seinem Artikel "
Zwischen Bruch und Reform. Wie es kam, dass es nach dem Konzil zwei unterschiedliche Schlüssel gab, das Zweite Vatikanum zu interpretieren" schreibt Guido Horst in Die Tagespost - bitte ganzen Artikel unbedingt lesen - unter anderem Folgendes:
>>Doch wird man darüber hinaus auch eine Art von Mentalitätsgeschichte betreiben müssen. Wie konnte es kommen, dass gebildete und normale Pfarrer nach dem Konzil als erstes ihre Kirchen leergeräumt, Heiligenfiguren auf den Dachboden verbannt und die Tabernakel zur Seite geschoben haben? Warum war das Latein plötzlich verpönt, obwohl das Konzil den Gebrauch der alten Kirchensprache nachdrücklich empfohlen hatte? Wann immer man anhand der Texte des Konzils nachweist, dass diese Bischofsversammlung auch Korrekturen vorgenommen und die Haltung der Kirche etwa zu den modernen Staaten oder den nichtchristlichen Religionen verändert hat, dabei aber ein und dieselbe katholische und apostolische Kirche geblieben ist, die sie schon vor dem Konzil war, so legt der Blick auf den kirchlichen Alltag, das Leben der Gemeinden sowie das theologische Forschen und Lehren eher den Eindruck nahe, als sei das Zweite Vatikanum ein Bruch mit der Vergangenheit gewesen. Es reicht nicht nur, die Kontinuität, in der die Kirche steht, sowie das Prinzip „Reform statt Bruch“ anhand der Konzilstexte nachzuweisen.
Man muss auch auf die Lebenswirklichkeit der Kirche und ihrer Gläubigen zumindest in der westlichen Welt schauen, um zu verstehen, warum manche so tun, als sei die Kirche auf dem Konzil neu erfunden worden. Es geht auch um Denkstile, Moden, Zeitströmungen und ideologische Einflüsse, denen das Katholische nach dem Konzil ausgesetzt war.
Hier kommt der Kulturrevolution von 1968 eine ganz besondere Bedeutung zu. Ohne zu wissen, dass drei Jahre später die sogenannte „68er-Zeit“ beginnen sollte, hatten die Konzilsväter bis zum Ende des Zweiten Vatikanums im Dezember 1965 nichts getan, um die Gläubigen dagegen zu wappnen – wie sollten sie auch? –, aber alles, um sie für das Aufbegehren gegen das Überkommene, das zum Selbstverständnis der 68er-Bewegung gehörte, anfällig zu machen.<<
Das war dann aber keine Frage des "Wie hätten sie können sollen?", sondern eine Frage des "Nicht-realisieren-wollens". Wenn ich das Fenster aufmache, in der Erwartung, es käme jetzt eine gehörige Portion Frischluft herein, dann kann es hin und wieder, je nach Wetterlage, eben auch passieren, dass statt einer duftenden Brise der Gestank von Nachbars Schweinestall reintreibt. Vielleicht waren in der Tat zu wenige praktisch denkende Hausfrauen anwesend, die sich mit ihrer Alltagserfahrung hätten einbringen können ...
Horsts Fazit lautet: >>Die Frage der Hermeneutik bei der Interpretation der Konzilslehren ist nicht nur eine Frage der sorgfältigen Lektüre von Texten und der Unterscheidung von unterschiedlichen Ebenen, auf denen es Kontinuitäten wie aber auch Diskontinuitäten gegeben hat, die nur dann richtig einzuordnen sind, wenn man das Konzil im Lichte der gesamten Tradition der Kirche liest. Die Frage der Hermeneutik ist auch eine Frage der Mentalitäten. Wer gegen Rom und das hierarchische Prinzip aufbegehrt, wird die Konzilstexte anders interpretieren als das römische Lehramt. Das Zweite Vatikanum dient damit als Steinbruch oder Waffenlager, aus dem sich jeder die Zitate herausholt, die er als Munition gut gebrauchen kann. Nicht die Interpretation der Konzilstexte ist die Schwierigkeit. Die Schwierigkeit sind jene, die es unterschiedlich interpretieren.<<
Da stellt sich mir schon noch die Frage, ob es sich wirklich um eine reine Interpretationsangelegenheit handelt. Wenn, wie in Horsts Artikel auch ausgeführt ("Beharrende Kräfte und Reformkräfte, Konservative und Progressive, Modernisierer und Reaktionäre – zwei Lager waren es, die Einfluss auf den Kurs des Schiffs Petri nehmen wollten.") und mit Zitaten belegt, wenn also von Anfang an schlicht ein Machtkampf zwischen zwei Blöcken geherrscht hat, der schließlich Anfang der Siebziger in eine offene Los-von-Rom-Bewegung auch von bischöflicher Seite kulminieren sollte, sich also kirchenpolitisches Machtstreben und mangelnder Gehorsam zunehmend offenbarten - wie könnte dies keinen Niederschlag in den hervorgebrachten Texte gefunden haben? Was wiederum, zusammen mit dem erwähnten Konglomerat von Moden, Zeitgeist, kulturellen Strömungen usw. im Verein mit einer völlig vernachlässigten Katechese - man war ja anderweitig beschäftigt, um sich und seine Ziele durchzusetzen - zu den bekannten Ergebnissen führte.
Übrigens habe ich bei Politisches-Unpolitisches (nicht öffentlich einsehbar) dazu auch gerade noch ein Zitat von Walter Kardinal Kasper gefunden, wonach die nachkonziliare Krise eine Identitätskrise der Prieser sei* - und so kommt eben eins zum anderen.
Und dann schaut man auf das Tohuwabohu und man hört über 40 Jahre danach, alles was es brauche, sei nur der richtige Schlüssel - wo doch vor lauter Sperrmüll das Schloss schon fast nicht mehr frei zugänglich ist, weil diejenigen, die dafür hätten sorgen müssen, dass es nicht mit unbrauchbarem Allerlei wie stockfleckigen Matratzen, kaputten Waschmaschinen und zerbrochenem Spielzeug verstellt wird, geschlafen haben. Natürlich haben sie auch vergessen, hin und wieder mal Grafit reinzugeben, damit sich der passende Schlüssel, der endlich wieder aufgetaucht ist, leichter darin drehen lässt.
Manchmal fallen mir halt nur noch Parabeln ein.
* Hier das erwähnte Zitat von Kardinal Kasper:"Nicht nur die Neuorientierung im Verständnis des Bischofsamtes, sondern ebenso die Betonung der Teilhabe der Laien an der Sendung der Kirche schuf für die Priester eine neue Situation. Sie bedeutet den Abschied von 'Hochwürden' und ein neues Verständnis des Priesters als Bruder unter Brüdern. Beide Entwicklungen führten zu einer Verunsicherung, ja zu einer Identitätskrise vieler Priester. Sie fragten sich: Wer sind wir? Keine Bischöfe, keine Laien, was dann?
Vor allem die sacerdotale Dimension des Priesters, die im Mittelalter und in der nachtridentinischen Epoche so sehr im Vordergrund stand, stieß nun bei vielen auf Unverständnis, ja oft geradezu auf Ablehnung. Das führte oft zu einem mehr oder weniger rein funktionalen Selbstverständnis der Priester als Gemeindeleiter und bei vielen Priestern zu einer Krise in ihrem priesterlichen Selbstverständnis und Lebensstil bis hin zum Exodus vieler Priester aus ihrem Amt. In dieser dramatischen Identitätskrise vieler Priester wurde letzlich die nachkonziliare Krise der Kirche selbst deutlich." (Kasper, Katholische Kirche, Freiburg 2011, S. 334)