Mein Vater
Bis etwa in mein Teenageralter hinein war mein Vater der beste Vater der Welt. Danach kam es zu den üblichen Differenzen - und er wurde schwer krank und sollte es über dreißig Jahre lang bleiben, bis zu seinem Tod auf der Intensivstation. Trotz aller Differenzen, seiner Unduldsamkeit wegen chronischer Schmerzen usw... Bin ich heute noch auf eine einzige Handlung stolz und dafür dankbar. An seinem letzten Abend auf der Intensiv klagte er über Schmerzen in den Füßen und Beinen. Er hatte zum Schluss offene Beine. Wohl auch wegen der Altersdiabetes, die ihm, zusammen mit Lymphknotenkrebs, mehreren Herzinfarkten, drei gravierenden Bypass-Operationen und noch vieles mehr, nicht erspart blieb.
Dazu kam seine Taubheit. Es war praktisch nicht mehr möglich, normal zu kommunizieren. Es war mühsam und anstrengend. Und natürlich war er selbst sehr unzufrieden und sehr anstrengend, denn es war schließlich er, der litt. An seinem letzten Abend habe ich ihm mit einer aromatischen Rosmarin-Salbe die schmerzenden Füße eingerieben und massiert. Mit einem Wattestäbchen, in Wasser getunkt, den Mund befeuchtet. Hätte ich gewusst, dass er in dieser Nacht sterben würde, wäre ich nicht nach Hause gegangen.
"Bis morgen!", sagte ich. Und küsste ihn auf die Stirn. Da hatte er die Augen schon geschlossen und sich in sein Schicksal ergeben. "Wenn es noch einmal Morgen wird", murmelte er leise.
So war das.
Aber ich wollte erzählen, was für ein toller Vater er war. Mein Papa las mir jedes Wochenende frühs um sechs Uhr, obwohl er lieber ausgeschlafen hätte als Werktätiger, aus einem gigantischen Readers-Digest-Band über Völker, Kulturen und exotische Tiere vor. Er schnitzte mir im Frühjahr Weidenflöten. Er baute mir eine kleine Dampfmaschine. Er zimmerte mir Stelzen und lehrte mich, darauf zu gehen. Er zog mit mir Kaulquappen zu Fröschen heran. Er brachte mir das Skifahren bei. Er fuhr jeden Samstag mit mir zu einer alten Burg oder einer Sehenswürdigkeit.
Und als ich es leid war, immer Erwachsene zu fragen: "Was steht denn da, kannst du mir das vorlesen?" - was eigentlich bei jeder Milchtüte und Streichholzschachtel-Aufschrift geschah, da lehrte er mich an seinen Feierabenden unter der Woche auch noch das Lesen. Ich war erst drei Jahre alt. Aber ich wollte LESEN können. Wir hatten eine dünne, alte Grundschulfibel. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, an dem es passierte: Was vorher einfach merkwürdige Striche und undeutbare Linien gewesen waren, formte sich zu einem Satz, den ich klar erkennen und vorlesen und erfassen konnte. Der Satz hieß: "Hans und Elsa gehen zur Schule."
Das war das größte Geschenk, das er mir jemals machte.
Als ganz ganz kleines Kind lag ich oft an ihn geschmiegt auf der Wohnzimmercouch, wenn er abends nach der Arbeit erschöpft eingeschlafen war. Ich horchte auf seinen Herzschlag. Sorgfältig und genau. Denn es hätte ja sein können, dass dieser Herzschlag einmal aussetzen könnte - und dann wäre das die Katastrophe für ein kleines Mädchen gewesen. Ich dachte, so lange ich nur horche, setzt es auch nicht aus, dieses Herz.
Doch viele Jahre später habe ich aufgehört, darauf zu horchen. Ich wurde groß darin, es zu ignorieren.
Und am Ende war aus dem kleinen, besorgten Mädchen eine erwachsene Frau geworden, die die Entscheidung treffen musste, dass dieses gequälte, große Herz nun nicht mehr weiter gequält werden dürfe wie das Herz eines Rennpferds. Und als der Moment kam, schmiegte ich mich in seine Arme, die verdrahtet und durchbohrt worden waren von der Maschinerie der Intensiv. Die pumpte und schaffte und lärmte und gar nicht mehr aufhören wollte.
Und ich horchte.
Und dann wurde es endlich ganz still.
Verzeih. Und: Danke, Papa.
Für alles.
Dazu kam seine Taubheit. Es war praktisch nicht mehr möglich, normal zu kommunizieren. Es war mühsam und anstrengend. Und natürlich war er selbst sehr unzufrieden und sehr anstrengend, denn es war schließlich er, der litt. An seinem letzten Abend habe ich ihm mit einer aromatischen Rosmarin-Salbe die schmerzenden Füße eingerieben und massiert. Mit einem Wattestäbchen, in Wasser getunkt, den Mund befeuchtet. Hätte ich gewusst, dass er in dieser Nacht sterben würde, wäre ich nicht nach Hause gegangen.
"Bis morgen!", sagte ich. Und küsste ihn auf die Stirn. Da hatte er die Augen schon geschlossen und sich in sein Schicksal ergeben. "Wenn es noch einmal Morgen wird", murmelte er leise.
So war das.
Aber ich wollte erzählen, was für ein toller Vater er war. Mein Papa las mir jedes Wochenende frühs um sechs Uhr, obwohl er lieber ausgeschlafen hätte als Werktätiger, aus einem gigantischen Readers-Digest-Band über Völker, Kulturen und exotische Tiere vor. Er schnitzte mir im Frühjahr Weidenflöten. Er baute mir eine kleine Dampfmaschine. Er zimmerte mir Stelzen und lehrte mich, darauf zu gehen. Er zog mit mir Kaulquappen zu Fröschen heran. Er brachte mir das Skifahren bei. Er fuhr jeden Samstag mit mir zu einer alten Burg oder einer Sehenswürdigkeit.
Und als ich es leid war, immer Erwachsene zu fragen: "Was steht denn da, kannst du mir das vorlesen?" - was eigentlich bei jeder Milchtüte und Streichholzschachtel-Aufschrift geschah, da lehrte er mich an seinen Feierabenden unter der Woche auch noch das Lesen. Ich war erst drei Jahre alt. Aber ich wollte LESEN können. Wir hatten eine dünne, alte Grundschulfibel. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, an dem es passierte: Was vorher einfach merkwürdige Striche und undeutbare Linien gewesen waren, formte sich zu einem Satz, den ich klar erkennen und vorlesen und erfassen konnte. Der Satz hieß: "Hans und Elsa gehen zur Schule."
Das war das größte Geschenk, das er mir jemals machte.
Als ganz ganz kleines Kind lag ich oft an ihn geschmiegt auf der Wohnzimmercouch, wenn er abends nach der Arbeit erschöpft eingeschlafen war. Ich horchte auf seinen Herzschlag. Sorgfältig und genau. Denn es hätte ja sein können, dass dieser Herzschlag einmal aussetzen könnte - und dann wäre das die Katastrophe für ein kleines Mädchen gewesen. Ich dachte, so lange ich nur horche, setzt es auch nicht aus, dieses Herz.
Doch viele Jahre später habe ich aufgehört, darauf zu horchen. Ich wurde groß darin, es zu ignorieren.
Und am Ende war aus dem kleinen, besorgten Mädchen eine erwachsene Frau geworden, die die Entscheidung treffen musste, dass dieses gequälte, große Herz nun nicht mehr weiter gequält werden dürfe wie das Herz eines Rennpferds. Und als der Moment kam, schmiegte ich mich in seine Arme, die verdrahtet und durchbohrt worden waren von der Maschinerie der Intensiv. Die pumpte und schaffte und lärmte und gar nicht mehr aufhören wollte.
Und ich horchte.
Und dann wurde es endlich ganz still.
Verzeih. Und: Danke, Papa.
Für alles.
ElsaLaska - 16. Jun, 22:21
Lk 7, 38