Die Legende von Tara Emahar
Tara Emahars Mutter tanzte noch in der Nacht vor ihrer Niederkunft den Flamenco. Taras Vater dagegen, der Sargmacher des kleinen andalusischen Dorfes, hatte auf seine eigene Art vorgesorgt und in den Wochen vor dem Ereignis zwei Särge gezimmert, einen großen und einen winzigen. Nach vollbrachter Arbeit war er in die Dorfkneipe gegangen und erst wieder zurückgekehrt, als Tara ihren ersten Schrei tat. Der kleine Sarg war sein Geburtstagsgeschenk für sie und den großen konnte er nachher an den Bürgermeister verkaufen, dessen Frau ebenfalls im Kindbett gelegen hatte, aber nicht mehr aufgestanden war.
Taras Vater war es zufrieden und nachdem er seine Tochter und einziges Kind gesegnet hatte, kehrte er wieder in die Dorfkneipe zurück, um sich von den Anstrengungen der letzten Tage zu erholen. Taras Mutter stand alsbald vom Kindbett wieder auf, um an den Samstagen die Kastagnetten klappern zu lassen und so blieb Tara mitsamt ihrer Wiege und dem kleinen Sarg, den der umsichtige Vater daneben platziert hatte, in der Obhut ihrer Großtante Serena.
Großtante Serenas beste Freundin war eine alte Zigeunerin und Serena hielt es für ihre Pflicht, diese über die Zukunft von Tara zu befragen. Jedoch verlief die Befragung unbefriedigend, befand zumindest Serena.
Ihre Freundin schüttelte nach zwei Wassergläsern voller Brandy den Kopf und verscheuchte die Wolken von Glühwürmchen, die nachts über Taras Wiege zu kreisen pflegten. Die uralte Zigeunerin segnete die Wiege, ließ sich schwer in den Sessel fallen und zündete sich eine Zigarre an. Schließlich seufzte sie zwei - dreimal tief und erklärte Serena, dass die kleine Tara im Besitz der Worte sei.
„Welcher Worte?", fragte Serena irritiert, denn Tara lag friedlich da und gluckerte ab und an nach Art der Babies.
„Aller Worte, die es je gegeben hat und je geben wird.", entgegnete die Zigeunerin, nicht ohne noch einmal einen tiefen Zug von ihrer Zigarre zu nehmen.
„Nun gut, so sei es," murmelte Serena und blickte unsicher auf das von den Glühwürmchen beleuchtete Gesichtchen ihres Schützlings. „Aber was ist mit Männern? Wird sie schön werden? Einen reichen Mann heiraten? Viele Söhne bekommen?" Sie schenkte großzügig Brandy nach in Erwartung eines positiven Bescheides.
"Tara wird jeden Mann haben können, den sie möchte, und von jedem Mann einen Sohn, wenn sie möchte. Sie ist im Besitz der Worte und dies vermag mehr auszurichten als alles andere in den Herzen der Menschen."
Jetzt war es an Serena, tief aufzuseufzen. Was für eine Prophezeiung!
„Was seufzt du, Serena? Sie ist eine Dichterin, und als solche geboren. Ihre Worte werden sein wie der Tanz, den ihre Mutter mit Hibiskusblüten im Haar tanzt und sie werden sein wie die Särge, die ihr Vater an nebligen Montagen zimmert. Nicht alle Menschen werden ihre Worte verstehen, weil nicht alle Menschen eine Seele haben." Hier schnäuzte sich die Zigeunerin kräftig und Serena beeilte sich, ihr ein Taschentuch anzubieten, bevor der Kleidärmel herhalten musste. „Nimm die Kleine, die ebenfalls vor ein paar Tagen geboren wurde, die Tochter des Bürgermeisters."
„Was ist mit ihr?", wollte Serena wissen.
„Sie liegt in einer Wiege aus Ebenholz, drei Ammen sind bestellt und ihr Vater geht schon wieder auf Brautschau, kaum dass der Leib seiner Gattin kalt geworden ist." Die Zigeunerin wog den Kopf.
„Die Tochter des Bürgermeisters hat keine Worte. Sie hat keine Ohren, um zu hören und kein Herz, um zu verstehen. Und weil das so ist, wird sie nie erleben, wie ihre Seele mit der des Geliebten verschmilzt."
Serena winkte ab.
„Hör zu, Smeralda, wir beide wissen, dass es Schlimmeres auf dieser Welt gibt."
„Wirklich? Du kennst den Unterschied ebenso wie ich. Ich habe in meinem Leben schon oft die Röcke geschürzt in einem Busch, auf einem Felsen ..."
Serena kicherte, doch die Alte fuhr unbeirrt fort:
"... aber wenn das Herz nicht dabei ist, ist das Herz nicht dabei. Die Tochter des Bürgermeisters wird diesen Unterschied nie bemerken, das ist das Gute daran. Und nun schenke mir noch einmal ein, Freundin."
Tara, die mit dichtem, dunklem Haar geboren worden war, lag in ihrer Wiege und träumte, es regne Mandelblüten, es dufte nach Honigmilch und es fächle ihr ein Pfau mit seinen Perlmuttfedern Luft zu.
Großtante Serena wartete in all den Jahren auf die Worte, die ihre Freundin, die Zigeunerin angekündigt hatte. Doch Tara sprach nicht. Stattdessen bemalte sie ihren kleinen Sarg mit Blumen und Tieren. Wenn sie etwas sagte, war es unverständlich, so, als höre man dem Dorfdeppen zu, wenn er speichelblasenwerfend vor sich hin brabbelte.
An diesem Maßstab gemessen entwickelte sich die Bürgermeisterstochter, Lucia, allerdings prächtig. Sie redete ohne Unterlass. Am liebsten über Dinge, die besser ungesagt geblieben wären. Als sei ein maurischer Dschinn in sie gefahren, plapperte sie den lieben langen Tag. Es war ohrenbetäubend.
Tara Emahar dagegen tanzte mit den Fischen.
Alejandro, dem Sohn des Notars dröhnte der Kopf von Lucias Versuchen, sein Herz herbeizureden. Ihre beiden Familien betrachteten diese Verbindung mit Wohlwollen. Es war ihm nicht unangenehm gewesen, als Lucia heute Abend seine Hand ergriff, um sie an ihren kleinen Busen zu drücken.
Er für seinen Teil würde das Beste aus der Verlobung machen, die in Kürze bekanntgegeben werden sollte, allerdings hoffte er inständig, in der Zwischenzeit zu ertauben. Für einen kurzen Moment war er sogar davon überzeugt, dass dieses Ereignis bereits eingetreten sei, denn er sah Tara Emahar im Mondschein dahingleiten.
Sie kam ihm entgegen auf der nächtlichen Dorfstraße als umgäbe sie Meereswasser, ihr Schritt ein Tanz mit einem Schwarm unsichtbarer Fische. Alejandro schnappte nach Luft und hüpfte auf einem Bein mit schief gelegtem Kopf. Aber er hatte kein Wasser in den Ohren, er war auch nicht plötzlich ertaubt, er schaute nur Tara Emahar, die Dichterin, wie sie die Dorfstraße entlang ging - und ihm entgegen.
Zuhause angekommen legte er sich ins Bett, drehte sein Gesicht zur Wand und kündigte an, nie wieder aufzustehen.
Der Bader kam und ließ ihn zur Ader, der Pfarrer kam und nahm ihm die Beichte ab, Lucia kam und drückte seine kalte Hand an ihren winzigen Busen, auf den sie sehr stolz war, doch niemand konnte Alejandro wieder herstellen. Schließlich gab seine verzweifelte Familie den Sarg bei Taras Vater in Auftrag.
Taras Vater jedoch hatte eigene Sorgen. Seit einigen Tagen schlich sich seine Tochter in die Werkstatt und bedeckte die Wände, die Arbeitsfläche, die Fenster, die Holzplatten, die fertigen Särge mit ihren Gedichten über Alejandro. Sie machte nicht einmal vor dem vorbestellten Sarg für Alejandro selbst halt, so dass er dem gramzerfurchten Notar schließlich einen Sarg präsentieren musste, dessen Wände, Boden und Deckel über und über mit Lobpreisungen und Huldigungen von Alejandros Haar, Alejandros Augenbrauen, Alejandros regenwolkenfarbenen Augen und Alejandros Körper bedeckt waren.
Der Notar geriet außer sich, Alejandro jedoch wurde auf der Stelle wieder gesund, als er den für ihn bestimmten Sarg sah. Niemand anders als Tara Emahar hatte diese Verse verfasst, soviel war klar, und wie er für sie Mond und Gestirne war, so war sie für ihn Wermut und Süßkirsche, Bittermandel und Orangenblüte.
Sie gingen zusammen fort, die Särge ließen sie unbekümmert zurück, und zeugten ein großes Geschlecht von Sängern und Dichtern.
Ihre Nachkommen sind heute über die ganze Erde verstreut.
Taras Vater war es zufrieden und nachdem er seine Tochter und einziges Kind gesegnet hatte, kehrte er wieder in die Dorfkneipe zurück, um sich von den Anstrengungen der letzten Tage zu erholen. Taras Mutter stand alsbald vom Kindbett wieder auf, um an den Samstagen die Kastagnetten klappern zu lassen und so blieb Tara mitsamt ihrer Wiege und dem kleinen Sarg, den der umsichtige Vater daneben platziert hatte, in der Obhut ihrer Großtante Serena.
Großtante Serenas beste Freundin war eine alte Zigeunerin und Serena hielt es für ihre Pflicht, diese über die Zukunft von Tara zu befragen. Jedoch verlief die Befragung unbefriedigend, befand zumindest Serena.
Ihre Freundin schüttelte nach zwei Wassergläsern voller Brandy den Kopf und verscheuchte die Wolken von Glühwürmchen, die nachts über Taras Wiege zu kreisen pflegten. Die uralte Zigeunerin segnete die Wiege, ließ sich schwer in den Sessel fallen und zündete sich eine Zigarre an. Schließlich seufzte sie zwei - dreimal tief und erklärte Serena, dass die kleine Tara im Besitz der Worte sei.
„Welcher Worte?", fragte Serena irritiert, denn Tara lag friedlich da und gluckerte ab und an nach Art der Babies.
„Aller Worte, die es je gegeben hat und je geben wird.", entgegnete die Zigeunerin, nicht ohne noch einmal einen tiefen Zug von ihrer Zigarre zu nehmen.
„Nun gut, so sei es," murmelte Serena und blickte unsicher auf das von den Glühwürmchen beleuchtete Gesichtchen ihres Schützlings. „Aber was ist mit Männern? Wird sie schön werden? Einen reichen Mann heiraten? Viele Söhne bekommen?" Sie schenkte großzügig Brandy nach in Erwartung eines positiven Bescheides.
"Tara wird jeden Mann haben können, den sie möchte, und von jedem Mann einen Sohn, wenn sie möchte. Sie ist im Besitz der Worte und dies vermag mehr auszurichten als alles andere in den Herzen der Menschen."
Jetzt war es an Serena, tief aufzuseufzen. Was für eine Prophezeiung!
„Was seufzt du, Serena? Sie ist eine Dichterin, und als solche geboren. Ihre Worte werden sein wie der Tanz, den ihre Mutter mit Hibiskusblüten im Haar tanzt und sie werden sein wie die Särge, die ihr Vater an nebligen Montagen zimmert. Nicht alle Menschen werden ihre Worte verstehen, weil nicht alle Menschen eine Seele haben." Hier schnäuzte sich die Zigeunerin kräftig und Serena beeilte sich, ihr ein Taschentuch anzubieten, bevor der Kleidärmel herhalten musste. „Nimm die Kleine, die ebenfalls vor ein paar Tagen geboren wurde, die Tochter des Bürgermeisters."
„Was ist mit ihr?", wollte Serena wissen.
„Sie liegt in einer Wiege aus Ebenholz, drei Ammen sind bestellt und ihr Vater geht schon wieder auf Brautschau, kaum dass der Leib seiner Gattin kalt geworden ist." Die Zigeunerin wog den Kopf.
„Die Tochter des Bürgermeisters hat keine Worte. Sie hat keine Ohren, um zu hören und kein Herz, um zu verstehen. Und weil das so ist, wird sie nie erleben, wie ihre Seele mit der des Geliebten verschmilzt."
Serena winkte ab.
„Hör zu, Smeralda, wir beide wissen, dass es Schlimmeres auf dieser Welt gibt."
„Wirklich? Du kennst den Unterschied ebenso wie ich. Ich habe in meinem Leben schon oft die Röcke geschürzt in einem Busch, auf einem Felsen ..."
Serena kicherte, doch die Alte fuhr unbeirrt fort:
"... aber wenn das Herz nicht dabei ist, ist das Herz nicht dabei. Die Tochter des Bürgermeisters wird diesen Unterschied nie bemerken, das ist das Gute daran. Und nun schenke mir noch einmal ein, Freundin."
Tara, die mit dichtem, dunklem Haar geboren worden war, lag in ihrer Wiege und träumte, es regne Mandelblüten, es dufte nach Honigmilch und es fächle ihr ein Pfau mit seinen Perlmuttfedern Luft zu.
Großtante Serena wartete in all den Jahren auf die Worte, die ihre Freundin, die Zigeunerin angekündigt hatte. Doch Tara sprach nicht. Stattdessen bemalte sie ihren kleinen Sarg mit Blumen und Tieren. Wenn sie etwas sagte, war es unverständlich, so, als höre man dem Dorfdeppen zu, wenn er speichelblasenwerfend vor sich hin brabbelte.
An diesem Maßstab gemessen entwickelte sich die Bürgermeisterstochter, Lucia, allerdings prächtig. Sie redete ohne Unterlass. Am liebsten über Dinge, die besser ungesagt geblieben wären. Als sei ein maurischer Dschinn in sie gefahren, plapperte sie den lieben langen Tag. Es war ohrenbetäubend.
Tara Emahar dagegen tanzte mit den Fischen.
Alejandro, dem Sohn des Notars dröhnte der Kopf von Lucias Versuchen, sein Herz herbeizureden. Ihre beiden Familien betrachteten diese Verbindung mit Wohlwollen. Es war ihm nicht unangenehm gewesen, als Lucia heute Abend seine Hand ergriff, um sie an ihren kleinen Busen zu drücken.
Er für seinen Teil würde das Beste aus der Verlobung machen, die in Kürze bekanntgegeben werden sollte, allerdings hoffte er inständig, in der Zwischenzeit zu ertauben. Für einen kurzen Moment war er sogar davon überzeugt, dass dieses Ereignis bereits eingetreten sei, denn er sah Tara Emahar im Mondschein dahingleiten.
Sie kam ihm entgegen auf der nächtlichen Dorfstraße als umgäbe sie Meereswasser, ihr Schritt ein Tanz mit einem Schwarm unsichtbarer Fische. Alejandro schnappte nach Luft und hüpfte auf einem Bein mit schief gelegtem Kopf. Aber er hatte kein Wasser in den Ohren, er war auch nicht plötzlich ertaubt, er schaute nur Tara Emahar, die Dichterin, wie sie die Dorfstraße entlang ging - und ihm entgegen.
Zuhause angekommen legte er sich ins Bett, drehte sein Gesicht zur Wand und kündigte an, nie wieder aufzustehen.
Der Bader kam und ließ ihn zur Ader, der Pfarrer kam und nahm ihm die Beichte ab, Lucia kam und drückte seine kalte Hand an ihren winzigen Busen, auf den sie sehr stolz war, doch niemand konnte Alejandro wieder herstellen. Schließlich gab seine verzweifelte Familie den Sarg bei Taras Vater in Auftrag.
Taras Vater jedoch hatte eigene Sorgen. Seit einigen Tagen schlich sich seine Tochter in die Werkstatt und bedeckte die Wände, die Arbeitsfläche, die Fenster, die Holzplatten, die fertigen Särge mit ihren Gedichten über Alejandro. Sie machte nicht einmal vor dem vorbestellten Sarg für Alejandro selbst halt, so dass er dem gramzerfurchten Notar schließlich einen Sarg präsentieren musste, dessen Wände, Boden und Deckel über und über mit Lobpreisungen und Huldigungen von Alejandros Haar, Alejandros Augenbrauen, Alejandros regenwolkenfarbenen Augen und Alejandros Körper bedeckt waren.
Der Notar geriet außer sich, Alejandro jedoch wurde auf der Stelle wieder gesund, als er den für ihn bestimmten Sarg sah. Niemand anders als Tara Emahar hatte diese Verse verfasst, soviel war klar, und wie er für sie Mond und Gestirne war, so war sie für ihn Wermut und Süßkirsche, Bittermandel und Orangenblüte.
Sie gingen zusammen fort, die Särge ließen sie unbekümmert zurück, und zeugten ein großes Geschlecht von Sängern und Dichtern.
Ihre Nachkommen sind heute über die ganze Erde verstreut.
ElsaLaska - 7. Jul, 22:07
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