Die Prophezeiung [II]
Den ganzen Tag lastete eine undurchdringlich scheinende Nebeldecke über Köln. Doch als die Novembersonne es zur Sext schaffte, den milchigen Himmel kobaltblau aufleuchten zu lassen, bekam Richmodis, die mit den anderen Schwestern das Mittagsgebet im benachbarten St. Gereon abgehalten hatte, Lust, an den Abschriften der Hildegard-Predigt weiterzuarbeiten.
An ihrem Pult aus Eichenholz sprach sie ein vorbereitendes Gebet und ordnete dann Kiele, Federmesserchen und Tintenbehälter. Richmodis stellte ihre Tinte selbst her: Im Frühjahr sammelte sie Schlehenzweige, klopfte die Rinde ab und setzte daraus einen Sud an, den sie mit Wein vermischt kochte, bis er eindickte. Damit ihre Tinte nachtschwarz wurde, gab sie Vitriol hinzu.
Sie prüfte die Konsistenz der Flüssigkeit mit einem Holzstäbchen, nahm einen Bogen aus Pergament zur Hand, beschnitt die Ränder und zog feine Linien. Das Vorlagenpergament lehnte auf einer schrägen Stütze - Richmodis konnte so bequem die Predigt in eleganten Minuskeln mit weit hochgezogenen Buchstabenlängen kopieren. Sorgfältig wählte sie eine grau gesprenkelte Feder und fuhr prüfend über das abgeschrägte Ende, tunkte sie ein und begann mit ihrer Arbeit.
Bis zur Non hatte sie sich nur zweimal verschrieben. Die fehlerhaften Stellen würde sie mit der Klinge wegschaben und vorsichtig neu beschriften.
Bevor sie sich anschickte, das vorgeschriebene Gebet zu verrichten, las sie sich die kopierte Stelle noch einmal durch. Hildegard griff darin den verdorbenen Klerus unmissverständlich an:
„Ihr seid eine Nacht, die Finsternis ausatmet, und wie ein Volk, das nicht arbeitet. Ihr liegt am Boden und seid kein Halt für die Kirche, sondern ihr flieht in die Höhle eurer Lust. Und wegen eures ekelhaften Reichtums und Geizes sowie anderer Eitelkeiten unterweist ihr eure Untergebenen nicht. Ihr solltet eine Feuersäule sein, den Menschen vorausziehen und sie aufrufen, gute Werke zu tun.“
Richmodis nickte anerkennend und ging ihre Liste der Auftraggeber für die Predigt durch. Ein Exemplar für St. Gereon, das hatte sie bereits vor einer Woche überbringen lassen. Domdekan Philipp von Heinsberg wartete immer noch und hätte eigentlich Vorrang gehabt. Sie zog die Brauen zusammen. Ihr Fehler, den sie damit wiedergutmachen wollte, in dem sie sich gleich mit einer Abschrift auf den Weg Richtung Rhein machte. So konnte sie das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und am Fluss frische Luft schnappen. Sie nahm eine vollendete Abschrift, legte sie sorgfältig zwischen zwei dünne Brettchen aus Ahornholz und langte nach ihrem mit Fuchsfell gesäumtem Wollüberwurf. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sie ließ den Umhang sinken und trat zurück an ihr Pult. Mit angehaltenem Atem überflog sie die heute kopierte Stelle. Finsternis ausatmet ... ... liegt am Boden ... Höhle der Lust ... Reichtum und Geiz, unterweist die Untergebenen nicht ... Sie schlug ein Kreuz. Das konnte nie und nimmer ein Zufall sein! Der Ruß in Bruder Fulberts Nase - war es nicht, wie Finsternis ausatmen? Die Leiche hatte am Boden gelegen, mit einem Mund voller Münzen konnte man keine Unterweisung geben und – die Höhle der Lust hatte die prophetissa sicher anders gemeint. Aber tatsächlich hatte an der Stelle der „Lust“ ein schreckliches Loch in Bruder Fulberts Körper geklafft. Konnte es sein? War es denn möglich, dass sich der üble Zustand der Leiche auf die Strafpredigt Hildegards bezog?
Domdekan von Heinsberg würde noch einen Tag länger warten müssen. Richmodis griff sich das Blatt vom Pult und eilte damit zu den Gemächern der Äbtissin.
[Fortsetzung Teil III hier]
[Zurück zu Teil 1 und dem Beginn der Geschichte]
An ihrem Pult aus Eichenholz sprach sie ein vorbereitendes Gebet und ordnete dann Kiele, Federmesserchen und Tintenbehälter. Richmodis stellte ihre Tinte selbst her: Im Frühjahr sammelte sie Schlehenzweige, klopfte die Rinde ab und setzte daraus einen Sud an, den sie mit Wein vermischt kochte, bis er eindickte. Damit ihre Tinte nachtschwarz wurde, gab sie Vitriol hinzu.
Sie prüfte die Konsistenz der Flüssigkeit mit einem Holzstäbchen, nahm einen Bogen aus Pergament zur Hand, beschnitt die Ränder und zog feine Linien. Das Vorlagenpergament lehnte auf einer schrägen Stütze - Richmodis konnte so bequem die Predigt in eleganten Minuskeln mit weit hochgezogenen Buchstabenlängen kopieren. Sorgfältig wählte sie eine grau gesprenkelte Feder und fuhr prüfend über das abgeschrägte Ende, tunkte sie ein und begann mit ihrer Arbeit.
Bis zur Non hatte sie sich nur zweimal verschrieben. Die fehlerhaften Stellen würde sie mit der Klinge wegschaben und vorsichtig neu beschriften.
Bevor sie sich anschickte, das vorgeschriebene Gebet zu verrichten, las sie sich die kopierte Stelle noch einmal durch. Hildegard griff darin den verdorbenen Klerus unmissverständlich an:
„Ihr seid eine Nacht, die Finsternis ausatmet, und wie ein Volk, das nicht arbeitet. Ihr liegt am Boden und seid kein Halt für die Kirche, sondern ihr flieht in die Höhle eurer Lust. Und wegen eures ekelhaften Reichtums und Geizes sowie anderer Eitelkeiten unterweist ihr eure Untergebenen nicht. Ihr solltet eine Feuersäule sein, den Menschen vorausziehen und sie aufrufen, gute Werke zu tun.“
Richmodis nickte anerkennend und ging ihre Liste der Auftraggeber für die Predigt durch. Ein Exemplar für St. Gereon, das hatte sie bereits vor einer Woche überbringen lassen. Domdekan Philipp von Heinsberg wartete immer noch und hätte eigentlich Vorrang gehabt. Sie zog die Brauen zusammen. Ihr Fehler, den sie damit wiedergutmachen wollte, in dem sie sich gleich mit einer Abschrift auf den Weg Richtung Rhein machte. So konnte sie das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und am Fluss frische Luft schnappen. Sie nahm eine vollendete Abschrift, legte sie sorgfältig zwischen zwei dünne Brettchen aus Ahornholz und langte nach ihrem mit Fuchsfell gesäumtem Wollüberwurf. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sie ließ den Umhang sinken und trat zurück an ihr Pult. Mit angehaltenem Atem überflog sie die heute kopierte Stelle. Finsternis ausatmet ... ... liegt am Boden ... Höhle der Lust ... Reichtum und Geiz, unterweist die Untergebenen nicht ... Sie schlug ein Kreuz. Das konnte nie und nimmer ein Zufall sein! Der Ruß in Bruder Fulberts Nase - war es nicht, wie Finsternis ausatmen? Die Leiche hatte am Boden gelegen, mit einem Mund voller Münzen konnte man keine Unterweisung geben und – die Höhle der Lust hatte die prophetissa sicher anders gemeint. Aber tatsächlich hatte an der Stelle der „Lust“ ein schreckliches Loch in Bruder Fulberts Körper geklafft. Konnte es sein? War es denn möglich, dass sich der üble Zustand der Leiche auf die Strafpredigt Hildegards bezog?
Domdekan von Heinsberg würde noch einen Tag länger warten müssen. Richmodis griff sich das Blatt vom Pult und eilte damit zu den Gemächern der Äbtissin.
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ElsaLaska - 29. Aug, 22:54
Schön ;-)
Danke :-)