Die Prophezeiung [III]
Margitta befand sich in der Gesellschaft des Vorstehers von St. Gereon, Liudger von Amsperk. Obwohl alles nach einem gemütlichen Beisammensein aussah – das flackernde Feuer, eine Schale mit den letzten frischen Trauben des Jahres – waren die Mienen der beiden ernst. Abt Liudger, ein kleiner Mann mit Säbelbeinchen, war stark abgemagert, seit Richmodis ihn das letzte Mal gesehen hatte. Faltige Hängebacken waren ihm geblieben, die durch nach unten gezogene Mundwinkel noch verstärkt wurden. Der ungünstige Eindruck wurde abgerundet durch ein Paar Segelohren, die sich auffallend über der Halskrause erhoben und sich Richmodis zuwendeten wie zwei große, bleiche Kohlblätter. Die Äbtissin forderte sie mit einer Handbewegung auf, Platz auf dem Hocker neben sich zu nehmen. Richmodis folgte ihrer Anweisung schweigend und legte die Seite der Abschrift in ihren Schoß.
„Vater Liudger und ich erörtern gerade den Mord an Bruder Fulbert – der Herr schenke seiner Seele ewige Ruhe! Welche Neuigkeiten hast du für uns, liebe Tochter?“
Richmodis versicherte sich mit einem Seitenblick auf Margitta, dass sie frei sprechen dürfe und verlas die Abschrift mit der Klerikerschelte der Hildegard vom Rupertsberg, um dann auf ihre eigenen Schlussfolgerungen zum Zustand der Leiche zu kommen. Margitte hörte ihr mit ausdrucksloser Miene zu. Abt Liudger zog hin und wieder schmerzlich die Augenbrauen zusammen oder rieb sich mit einem Sacktuch den Schweiß aus dem Gesicht. Nachdem sie geendet hatte, war nur noch das schwere Schnaufen Abt Liudgers zu vernehmen, das Flackern des niederbrennenden Feuers und ein leise einsetzender, aber zunehmend stärker werdender Graupelschauer, der gegen die mit Ölhaut bespannten Fenster prasselte.
Abt Liudger nahm mit zittrigen Händen noch eine Traube und verschluckte sich prompt.
„Ihr meint also“, keuchte er, nachdem er sich wieder erholt hatte, „dass der Mörder die Leiche bewusst so zugerichtet hat, wie es die verehrte prophetissa in ihrer erhebenden Predigt beschrieben hat?“
Margitta nickte ein paar Mal nachdenklich. „Natürlich, Vater Liudger, warum denn nicht? Es ist die einzige Erklärung, die wir für den Zustand von Bruder Fulbert haben! Bedenkt doch nur das klaffende Loch zwischen seinen Beinen, wo das Werkzeug seines gotteslästerlichen Tuns mit Stumpf und Stiel herausgerissen wurde!“
An dieser Stelle verfärbten sich Abt Liudgers Ohren hin zur Farbe von Rotkohl. Er nahm einen kräftigen Schluck Hirsebier. „Damit kommen wir leider nicht weit. Hunderte, vielleicht sogar Tausend Menschen kennen die Predigt, die unsere verehrte prophetissa auf den Stufen von Maria im Kapitol gehalten hat“, gab er zu bedenken. „Selbst wenn die Rede Hildegards der Schlüssel für die Verstümmelung ist, für Ruß im Mund und Münzen in der Hand – wie können wir wissen, ob der Täter ein Ketzer war, der aus Feindschaft gegen den rechten Glauben an diesem Mönch gefrevelt hat? Oder ein Rechtgläubiger, der das Gericht Gottes gegen einen liederlichen und unzüchtigen Bruder vorwegnehmen wollte?“
Richmodis wechselte einen Blick mit ihrer Äbtissin. Die ehrwürdige Mutter hatte es auch bemerkt! Obwohl Abt Liudger eben die Originalstelle und ihre Schlussfolgerungen dazu gehört hatte, sprach er von Ruß im Mund statt in der Nase und Münzen in der Hand anstatt im Mund. Wie mochte es einem da ergangen sein, der inmitten der Menschenmenge die Predigt gehört hatte? Niemand hätte diese Details so genau memorieren können, befand Richmodis, wenn er nicht in einer Abschrift der Predigt hatte nachlesen können! Und damit engte sich der Kreis der möglichen Täter auf wenige Personen ein.
Sie sprang auf, erntete einen tadelnden Blick und entschuldigte sich mit einer Ausflucht. Richmodis war zuversichtlich, späteren Vorhaltungen von Mutter Margitta mit greifbaren Ergebnissen bei der Suche nach dem Mörder begegnen zu können. Mit fliegenden Röcken eilte sie zurück in ihre Schreibstube, wobei sie ausgerechnet in den Höhepunkt des Eisregenschauers geriet. Von Kopf bis Fuß durchnässt und mit den Zähnen klappernd langte sie in ihrer Stube an und musste sich als erstes umziehen.
Mutter Margittas Empörung konnte ihre Neugier nicht verhehlen – keine zehn Minuten später erschien sie in Richmodis’ Schreibstube, um sie zur Rede zu stellen und ihr drei Vaterunser aufzuerlegen, davon eines für Abt Liudger, eines für das Seelenheil von Bruder Fulbert und eines zur Sühne für ihre Hoffart. Richmodis wollte gehorsam mit den aufgetragenen Gebeten beginnen, doch Margitta unterbrach sie: Nicht jetzt, natürlich, sondern später, nach der nächsten Frühmesse, zum Beispiel. Und erst n a c h d e m sie ihr erklärt hätte, was ihr bei Abt Liudgers Bemerkungen eingefallen wäre. Richmodis beeilte sich, ihre Liste mit den Empfängern vorzulegen:
√ Kanzlei Erzbischof Rainald von Dassel
Philipp von Heinsberg, Domdekan
Reginlind, Äbtissin vom Stift Maria vom Kapitol
√ Luidger, Abt von St. Gereon
√ Hroswitha, Wohlthäterin
√ Hadwig Von Wieth, Äbtissin von Gerresheim
Adalbert, Wohlthäter
„Ehrwürdige Mutter, es ist Euch aufgefallen, dass Abt Liudger, der doch vor Maria im Kapitol dabei war, als unsere verehrte prophetissa gesprochen hat, sich die Einzelheiten nicht gemerkt hat? Obwohl ich die Rede eben vor ihm nochmals verlesen hatte? Und auch mir ist die Zuordnung des Rußes, der Münzen, des – nun, des Zustandes von Bruder Fulbert erst bei wiederholtem Lesen der Predigt aufgefallen. Deshalb bin ich mir sicher, ehrwürdige Mutter, dass der Mörder nicht unter jenen zu suchen ist, die vor Maria im Kapitol die Rede der Hildegard anhörten, sondern unter den wenigen Personen, die Zugang zu einer Abschrift haben!“
Margitta ballte beide Hände zu Fäusten und ging aufgeregt auf und ab. „Du hast Recht! Das ist ein Fingerzeig Gottes durch Abt Liudger gewesen! Und du, meine Tochter, stehst in Seiner Gnade. Mit IHM und Seinem Beistand werden wir diesen schändlichen Frevler der Reliquien Seiner heiligen Jungfrauen und Seiner geliebten heiligen Tochter Ursula zur Strecke bringen!“
Zur Bekräftigung umklammerte sie mit der Rechten das Kruzifix, das sie um den Hals trug, küsste es und trat nochmals herzu, um sich die Liste eingehender zu betrachten.
„Den Erzbischof können wir wohl ausschließen“, murmelte sie und rückte ihr Brustkreuz wieder zurecht. „Und die Edle Hroswitha ist steinalt und kann ihr Lager nicht einmal mehr für den Abort verlassen.“
Richmodis heuchelte Zustimmung, nahm sich aber vor, niemanden von der Verdächtigenliste zu nehmen, solange sie nicht noch einmal selbst Erkundigungen zu jedem Einzelnen eingeholt hatte. Und weil sie nicht wusste, wie sie in das Erzbischöfliche Palais vordringen oder sich im Stift von Abt Liudger unauffällig umtun konnte, beschloss sie, mit der Edlen Hroswitha anzufangen.
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„Vater Liudger und ich erörtern gerade den Mord an Bruder Fulbert – der Herr schenke seiner Seele ewige Ruhe! Welche Neuigkeiten hast du für uns, liebe Tochter?“
Richmodis versicherte sich mit einem Seitenblick auf Margitta, dass sie frei sprechen dürfe und verlas die Abschrift mit der Klerikerschelte der Hildegard vom Rupertsberg, um dann auf ihre eigenen Schlussfolgerungen zum Zustand der Leiche zu kommen. Margitte hörte ihr mit ausdrucksloser Miene zu. Abt Liudger zog hin und wieder schmerzlich die Augenbrauen zusammen oder rieb sich mit einem Sacktuch den Schweiß aus dem Gesicht. Nachdem sie geendet hatte, war nur noch das schwere Schnaufen Abt Liudgers zu vernehmen, das Flackern des niederbrennenden Feuers und ein leise einsetzender, aber zunehmend stärker werdender Graupelschauer, der gegen die mit Ölhaut bespannten Fenster prasselte.
Abt Liudger nahm mit zittrigen Händen noch eine Traube und verschluckte sich prompt.
„Ihr meint also“, keuchte er, nachdem er sich wieder erholt hatte, „dass der Mörder die Leiche bewusst so zugerichtet hat, wie es die verehrte prophetissa in ihrer erhebenden Predigt beschrieben hat?“
Margitta nickte ein paar Mal nachdenklich. „Natürlich, Vater Liudger, warum denn nicht? Es ist die einzige Erklärung, die wir für den Zustand von Bruder Fulbert haben! Bedenkt doch nur das klaffende Loch zwischen seinen Beinen, wo das Werkzeug seines gotteslästerlichen Tuns mit Stumpf und Stiel herausgerissen wurde!“
An dieser Stelle verfärbten sich Abt Liudgers Ohren hin zur Farbe von Rotkohl. Er nahm einen kräftigen Schluck Hirsebier. „Damit kommen wir leider nicht weit. Hunderte, vielleicht sogar Tausend Menschen kennen die Predigt, die unsere verehrte prophetissa auf den Stufen von Maria im Kapitol gehalten hat“, gab er zu bedenken. „Selbst wenn die Rede Hildegards der Schlüssel für die Verstümmelung ist, für Ruß im Mund und Münzen in der Hand – wie können wir wissen, ob der Täter ein Ketzer war, der aus Feindschaft gegen den rechten Glauben an diesem Mönch gefrevelt hat? Oder ein Rechtgläubiger, der das Gericht Gottes gegen einen liederlichen und unzüchtigen Bruder vorwegnehmen wollte?“
Richmodis wechselte einen Blick mit ihrer Äbtissin. Die ehrwürdige Mutter hatte es auch bemerkt! Obwohl Abt Liudger eben die Originalstelle und ihre Schlussfolgerungen dazu gehört hatte, sprach er von Ruß im Mund statt in der Nase und Münzen in der Hand anstatt im Mund. Wie mochte es einem da ergangen sein, der inmitten der Menschenmenge die Predigt gehört hatte? Niemand hätte diese Details so genau memorieren können, befand Richmodis, wenn er nicht in einer Abschrift der Predigt hatte nachlesen können! Und damit engte sich der Kreis der möglichen Täter auf wenige Personen ein.
Sie sprang auf, erntete einen tadelnden Blick und entschuldigte sich mit einer Ausflucht. Richmodis war zuversichtlich, späteren Vorhaltungen von Mutter Margitta mit greifbaren Ergebnissen bei der Suche nach dem Mörder begegnen zu können. Mit fliegenden Röcken eilte sie zurück in ihre Schreibstube, wobei sie ausgerechnet in den Höhepunkt des Eisregenschauers geriet. Von Kopf bis Fuß durchnässt und mit den Zähnen klappernd langte sie in ihrer Stube an und musste sich als erstes umziehen.
Mutter Margittas Empörung konnte ihre Neugier nicht verhehlen – keine zehn Minuten später erschien sie in Richmodis’ Schreibstube, um sie zur Rede zu stellen und ihr drei Vaterunser aufzuerlegen, davon eines für Abt Liudger, eines für das Seelenheil von Bruder Fulbert und eines zur Sühne für ihre Hoffart. Richmodis wollte gehorsam mit den aufgetragenen Gebeten beginnen, doch Margitta unterbrach sie: Nicht jetzt, natürlich, sondern später, nach der nächsten Frühmesse, zum Beispiel. Und erst n a c h d e m sie ihr erklärt hätte, was ihr bei Abt Liudgers Bemerkungen eingefallen wäre. Richmodis beeilte sich, ihre Liste mit den Empfängern vorzulegen:
√ Kanzlei Erzbischof Rainald von Dassel
Philipp von Heinsberg, Domdekan
Reginlind, Äbtissin vom Stift Maria vom Kapitol
√ Luidger, Abt von St. Gereon
√ Hroswitha, Wohlthäterin
√ Hadwig Von Wieth, Äbtissin von Gerresheim
Adalbert, Wohlthäter
„Ehrwürdige Mutter, es ist Euch aufgefallen, dass Abt Liudger, der doch vor Maria im Kapitol dabei war, als unsere verehrte prophetissa gesprochen hat, sich die Einzelheiten nicht gemerkt hat? Obwohl ich die Rede eben vor ihm nochmals verlesen hatte? Und auch mir ist die Zuordnung des Rußes, der Münzen, des – nun, des Zustandes von Bruder Fulbert erst bei wiederholtem Lesen der Predigt aufgefallen. Deshalb bin ich mir sicher, ehrwürdige Mutter, dass der Mörder nicht unter jenen zu suchen ist, die vor Maria im Kapitol die Rede der Hildegard anhörten, sondern unter den wenigen Personen, die Zugang zu einer Abschrift haben!“
Margitta ballte beide Hände zu Fäusten und ging aufgeregt auf und ab. „Du hast Recht! Das ist ein Fingerzeig Gottes durch Abt Liudger gewesen! Und du, meine Tochter, stehst in Seiner Gnade. Mit IHM und Seinem Beistand werden wir diesen schändlichen Frevler der Reliquien Seiner heiligen Jungfrauen und Seiner geliebten heiligen Tochter Ursula zur Strecke bringen!“
Zur Bekräftigung umklammerte sie mit der Rechten das Kruzifix, das sie um den Hals trug, küsste es und trat nochmals herzu, um sich die Liste eingehender zu betrachten.
„Den Erzbischof können wir wohl ausschließen“, murmelte sie und rückte ihr Brustkreuz wieder zurecht. „Und die Edle Hroswitha ist steinalt und kann ihr Lager nicht einmal mehr für den Abort verlassen.“
Richmodis heuchelte Zustimmung, nahm sich aber vor, niemanden von der Verdächtigenliste zu nehmen, solange sie nicht noch einmal selbst Erkundigungen zu jedem Einzelnen eingeholt hatte. Und weil sie nicht wusste, wie sie in das Erzbischöfliche Palais vordringen oder sich im Stift von Abt Liudger unauffällig umtun konnte, beschloss sie, mit der Edlen Hroswitha anzufangen.
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ElsaLaska - 31. Aug, 22:20
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