Die Prophezeiung [IV]
Hroswitha von Merstetten wohnte in der Hohe Pforte genannten Straße, in der Nähe von St. Maria im Kapitol. Auf dem Weg durch das winterliche Köln kam sie an Schänken und Backstuben, Fleischhauerständen, Maroniröstern, Wasserträgern und Wachsziehern, Schildermalern und Wappenschmieden vorbei. Die Luft war eisig, der Himmel milchig. Bald würden die ersten Flocken fallen. Richmodis freute sich nicht über die Kälte, aber auf den Schnee. Sie wollte Hroswitha einen harzig duftenden Kranz aus frischen Tannenzweigen bringen, der auf dem Reliquienschrein der Hl. Ursula geweiht worden war.
Als sie in die Hohe Pforte einbog, erschrak sie. Ein Leichenzug, angeführt von Ministranten mit Vortragekreuz und Weihrauchkesseln, gefolgt vom Priester, von Klageweibern, Verwandten und Freunden kam ihr entgegen, so dass sie fürchtete, die betagte Gönnerin des Ursulastiftes sei verstorben.
Um sich zu versichern, trat sie in das dreistöckige Haus mit dem mächtigen Ziergiebel ein. Sie fand die 84jährige Hroswitha kreuzfidel auf ihrem Krankenlager unter dem Dachstuhl vor.
Hroswithas Ähnlichkeit mit einem Zwetschgenmandl wurde durch die Lebhaftigkeit ihrer kleinen schwarzen Augen noch verstärkt. Kaum, dass sie Richmodis begrüßt, den geweihten Kranz achtlos beiseite gelegt und drei Mal kräftig geniest hatte, setzte sie die Totenklage über die Frau ihres achten Enkelsohnes fort.
Richmodis Vorschlag, gemeinsam für die im Kindbett Verstorbene zu beten, stieß auf wenig Gegenliebe.
„Wieviel Silberdenare bekommt ihr frommen Fräuleins im Jahr von mir, he? Und wofür? Damit ihr euch Schleckwerk und Honigwein kaufen könnt? Was denkst du? Antworte!“
Richmodis beeilte sich zu versichern, dass für sie und ihre Familie täglich gebetet werde und dies selbstverständlich auch nach ihrem Ableben, welches hoffentlich noch in allerweitester Ferne stünde, fortgeführt werde. Die Greisin ließ sich schwer atmend in ihr Kissen zurücksinken.
„Bilhildis war eine dumme Gans! Was lässt sie sich gleich von diesem Hanswurst und Protzlackel bespringen und ein Kind machen? Die Herren der Schöpfung! Wenn sie zu den Mauersteherinnen und Schankmägden gehen, wissen sie doch auch, wie sie’s anstellen müssen!“ Sie hieb mit der flachen Hand auf ihre Strohmatratze, dass der Staub aufwirbelte. Richmodis rätselte noch über die Bedeutung des letzten Satzes nach, da wurde die Alte deutlicher.
„Dem jüngsten Sohn meines jüngsten Sohnes, Anselmus, dem wär das nicht passiert. Der lässt sich keinen drallen Weiberarsch entgehen. Was reißt du die Augen auf, Täubchen? Weißt du immer noch nicht, wofür ihr das viele Geld von mir bekommt?“ Hroswitha fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. Richmodis reichte ihr mit gesenktem Blick einen Becher Wasser. Die andere nahm einen großen Schluck, bevor sie fortfuhr.
„Vitium contra naturam!“ Es klang, als spräche sie von ihrer Leibspeise. „ Das Laster wider die Natur! Mit den Weibern vollzogen macht das drei Jahre Buße nach dem liber poenitentialis des Regino von Prüm. Anselmus hat noch eins draufgesetzt – ein weißes, schmales Mönchsärschlein aus St. Gereon musste es sein. Konnte gar nicht genug von ihm kriegen. Macht dann sieben Jahre Buße, Kindchen. Also betet, betet ohne Unterlass für die alte Hroswitha und ihre Familie! Ich will was haben für mein Geld!“
Richmodis zögerte keine Sekunde, sie fiel auf die Knie und stimmte einen Bußpsalm an, um Hroswitha bei Laune zu halten und Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
War es möglich, dass Anselmus und Fulbert ...? Richmodis wollte sich in die Art und Weise ihres Verhältnisses nicht zu sehr vertiefen, nicht beim Psalmenbeten. Aber wenn sie einmal mit der Folgemagd von Anselmus ein Wörtlein redete? Hiltrud war ein hübsches und verständiges junges Ding. Und wenn Anselmus mit ihr auch? Contra naturam? Rasch versammelte sie ihre ausschweifenden Gedanken wieder auf die letzten Abschnitte des Miserere mei, Dominus und schloss mit einem inbrünstigem Amen. Hroswitha war mit einem zufriedenen Lächeln auf den eingefallenen Lippen in einen tiefen Schlaf gesunken.
Hiltrud bürstete gerade einen glänzendbraunen Biberpelzumhang aus, der vermutlich Anselmus gehörte und hatte vor Anstrengung Schweißperlen auf der Stirn. Sie grüßte Richmodis freundlich. Hin und wieder hatte sie der Schreiberin frische Gänsekiele oder eine schöne Kerze in den Stift gebracht, als Geschenk ihrer Hausherrin. Jedesmal hatte sie etwas zu trinken und eine Scheibe Musbrot oder einen Kanten Käse bekommen. Dass sich eine der Stiftsfrauen für ihren Herren interessierte, war aber noch nie vorgekommen. Hiltrud räumte dem Fräulein keine Chance auf die Gunst ihres Herren ein – zu mager, befand sie. Doch beneidete sie Richmodis um deren silbrig-blau leuchtenden Augen unter der hohen und schön gewölbten Stirn.
„Der Herr kasteit sich dieser Tage“, gab sie wichtig zur Antwort, weil sie glaubte, dass dies dem edlen Fräulein wohl gefallen würde. „Er isst nichts, hin und wieder einen Kanten Brot. Dem Wein war er noch nie zugetan. Er schläft nicht, sondern betet viel. Besonders drüben in St. Gereon. Möglich wär’s, dass er in den Stift eintreten will. Aber gehört hab ich noch nichts darüber ...“ Hiltrud hob bedauernd die Schultern, weil sie meinte, dass dieses Vorhaben Anselmus in den Augen von Richmodis anziehender machen müsste.
„Es freut mich zu hören, dass dein Herr so ein frommer Mann ist, Hiltrud. So ist er also in sich gegangen und hat sich bekehrt. Jaja, die Predigten unserer ehrwürdigen Mutter Hildegard vom Rupertsberg haben schon so manchen zur Umkehr gebracht. Danken wir dem Allerhöchsten, der aus ihr spricht.“ Sie schaute Hiltrud in die treuherzigen Augen. Prompt begann die Zimmermagd zu strahlen. „Ehre und Dank dem Allerhöchsten, und der guten und ehrwürdigen Mutter Hildegard. Bald nach dem Tag, an dem Eure Abschrift ihrer Predigt bei uns im Hause verlesen wurde, war mein Herr wie ausgewechselt. Er bewahrt sie zusammen mit seinen wertvollsten Unterlagen auf.“
Richmodis strahlte aufrichtig zurück und drückte ihr als Dank eine der begehrten Tuchreliquien in die Hand, die auf dem Schrein der Hl. Ursula geweiht wurden. Sie verabschiedeten sich herzlich.
Die Predigtkopie war also tatsächlich in Anselmus’ Händen gelandet. Er bewahrte sie sogar für die ganze Familie auf. Jetzt musste Richmodis nur noch herausfinden, ob Anselmus ein Trauernder, der Mörder - oder gar beides war.
Richmodis gehobene Stimmung hielt nicht lange an. Auf dem Rückweg rutschte sie auf einer Handvoll Fischgekröse aus und wäre fast hingefallen. Außerdem stellte sie fest, dass sie es zur Sext bestimmt nicht mehr schaffen würde – die Mittagsstunde, in der heute die Neueinweihung der St. Ursula Kirche erfolgte. Was Mutter Margitta dazu sagen würde, konnte sie sich lebhaft ausmalen.
Aber es sollte alles noch weitaus schlimmer kommen.
[Teil V bzw. Ende der Geschichte]
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Als sie in die Hohe Pforte einbog, erschrak sie. Ein Leichenzug, angeführt von Ministranten mit Vortragekreuz und Weihrauchkesseln, gefolgt vom Priester, von Klageweibern, Verwandten und Freunden kam ihr entgegen, so dass sie fürchtete, die betagte Gönnerin des Ursulastiftes sei verstorben.
Um sich zu versichern, trat sie in das dreistöckige Haus mit dem mächtigen Ziergiebel ein. Sie fand die 84jährige Hroswitha kreuzfidel auf ihrem Krankenlager unter dem Dachstuhl vor.
Hroswithas Ähnlichkeit mit einem Zwetschgenmandl wurde durch die Lebhaftigkeit ihrer kleinen schwarzen Augen noch verstärkt. Kaum, dass sie Richmodis begrüßt, den geweihten Kranz achtlos beiseite gelegt und drei Mal kräftig geniest hatte, setzte sie die Totenklage über die Frau ihres achten Enkelsohnes fort.
Richmodis Vorschlag, gemeinsam für die im Kindbett Verstorbene zu beten, stieß auf wenig Gegenliebe.
„Wieviel Silberdenare bekommt ihr frommen Fräuleins im Jahr von mir, he? Und wofür? Damit ihr euch Schleckwerk und Honigwein kaufen könnt? Was denkst du? Antworte!“
Richmodis beeilte sich zu versichern, dass für sie und ihre Familie täglich gebetet werde und dies selbstverständlich auch nach ihrem Ableben, welches hoffentlich noch in allerweitester Ferne stünde, fortgeführt werde. Die Greisin ließ sich schwer atmend in ihr Kissen zurücksinken.
„Bilhildis war eine dumme Gans! Was lässt sie sich gleich von diesem Hanswurst und Protzlackel bespringen und ein Kind machen? Die Herren der Schöpfung! Wenn sie zu den Mauersteherinnen und Schankmägden gehen, wissen sie doch auch, wie sie’s anstellen müssen!“ Sie hieb mit der flachen Hand auf ihre Strohmatratze, dass der Staub aufwirbelte. Richmodis rätselte noch über die Bedeutung des letzten Satzes nach, da wurde die Alte deutlicher.
„Dem jüngsten Sohn meines jüngsten Sohnes, Anselmus, dem wär das nicht passiert. Der lässt sich keinen drallen Weiberarsch entgehen. Was reißt du die Augen auf, Täubchen? Weißt du immer noch nicht, wofür ihr das viele Geld von mir bekommt?“ Hroswitha fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. Richmodis reichte ihr mit gesenktem Blick einen Becher Wasser. Die andere nahm einen großen Schluck, bevor sie fortfuhr.
„Vitium contra naturam!“ Es klang, als spräche sie von ihrer Leibspeise. „ Das Laster wider die Natur! Mit den Weibern vollzogen macht das drei Jahre Buße nach dem liber poenitentialis des Regino von Prüm. Anselmus hat noch eins draufgesetzt – ein weißes, schmales Mönchsärschlein aus St. Gereon musste es sein. Konnte gar nicht genug von ihm kriegen. Macht dann sieben Jahre Buße, Kindchen. Also betet, betet ohne Unterlass für die alte Hroswitha und ihre Familie! Ich will was haben für mein Geld!“
Richmodis zögerte keine Sekunde, sie fiel auf die Knie und stimmte einen Bußpsalm an, um Hroswitha bei Laune zu halten und Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
War es möglich, dass Anselmus und Fulbert ...? Richmodis wollte sich in die Art und Weise ihres Verhältnisses nicht zu sehr vertiefen, nicht beim Psalmenbeten. Aber wenn sie einmal mit der Folgemagd von Anselmus ein Wörtlein redete? Hiltrud war ein hübsches und verständiges junges Ding. Und wenn Anselmus mit ihr auch? Contra naturam? Rasch versammelte sie ihre ausschweifenden Gedanken wieder auf die letzten Abschnitte des Miserere mei, Dominus und schloss mit einem inbrünstigem Amen. Hroswitha war mit einem zufriedenen Lächeln auf den eingefallenen Lippen in einen tiefen Schlaf gesunken.
Hiltrud bürstete gerade einen glänzendbraunen Biberpelzumhang aus, der vermutlich Anselmus gehörte und hatte vor Anstrengung Schweißperlen auf der Stirn. Sie grüßte Richmodis freundlich. Hin und wieder hatte sie der Schreiberin frische Gänsekiele oder eine schöne Kerze in den Stift gebracht, als Geschenk ihrer Hausherrin. Jedesmal hatte sie etwas zu trinken und eine Scheibe Musbrot oder einen Kanten Käse bekommen. Dass sich eine der Stiftsfrauen für ihren Herren interessierte, war aber noch nie vorgekommen. Hiltrud räumte dem Fräulein keine Chance auf die Gunst ihres Herren ein – zu mager, befand sie. Doch beneidete sie Richmodis um deren silbrig-blau leuchtenden Augen unter der hohen und schön gewölbten Stirn.
„Der Herr kasteit sich dieser Tage“, gab sie wichtig zur Antwort, weil sie glaubte, dass dies dem edlen Fräulein wohl gefallen würde. „Er isst nichts, hin und wieder einen Kanten Brot. Dem Wein war er noch nie zugetan. Er schläft nicht, sondern betet viel. Besonders drüben in St. Gereon. Möglich wär’s, dass er in den Stift eintreten will. Aber gehört hab ich noch nichts darüber ...“ Hiltrud hob bedauernd die Schultern, weil sie meinte, dass dieses Vorhaben Anselmus in den Augen von Richmodis anziehender machen müsste.
„Es freut mich zu hören, dass dein Herr so ein frommer Mann ist, Hiltrud. So ist er also in sich gegangen und hat sich bekehrt. Jaja, die Predigten unserer ehrwürdigen Mutter Hildegard vom Rupertsberg haben schon so manchen zur Umkehr gebracht. Danken wir dem Allerhöchsten, der aus ihr spricht.“ Sie schaute Hiltrud in die treuherzigen Augen. Prompt begann die Zimmermagd zu strahlen. „Ehre und Dank dem Allerhöchsten, und der guten und ehrwürdigen Mutter Hildegard. Bald nach dem Tag, an dem Eure Abschrift ihrer Predigt bei uns im Hause verlesen wurde, war mein Herr wie ausgewechselt. Er bewahrt sie zusammen mit seinen wertvollsten Unterlagen auf.“
Richmodis strahlte aufrichtig zurück und drückte ihr als Dank eine der begehrten Tuchreliquien in die Hand, die auf dem Schrein der Hl. Ursula geweiht wurden. Sie verabschiedeten sich herzlich.
Die Predigtkopie war also tatsächlich in Anselmus’ Händen gelandet. Er bewahrte sie sogar für die ganze Familie auf. Jetzt musste Richmodis nur noch herausfinden, ob Anselmus ein Trauernder, der Mörder - oder gar beides war.
Richmodis gehobene Stimmung hielt nicht lange an. Auf dem Rückweg rutschte sie auf einer Handvoll Fischgekröse aus und wäre fast hingefallen. Außerdem stellte sie fest, dass sie es zur Sext bestimmt nicht mehr schaffen würde – die Mittagsstunde, in der heute die Neueinweihung der St. Ursula Kirche erfolgte. Was Mutter Margitta dazu sagen würde, konnte sie sich lebhaft ausmalen.
Aber es sollte alles noch weitaus schlimmer kommen.
[Teil V bzw. Ende der Geschichte]
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ElsaLaska - 2. Sep, 15:13
Wäre schön!
Quando, quando, quando