Kardinal Ratzinger über die Theologie der Befreiung
>>Dass es in Lateinamerika in erschreckendem Maß Unterdrückung, ungerechte Herrschaft, Konzentration von Besitz und Macht in wenigen Händen und Ausbeutung der Armen gab, war unbestritten und unbestritten damit, dass Handlungsbedarf bestand. Und da es sich um mehrheitlich katholische Länder handelte, konnte kein Zweifel sein, dass hier die Kirche Verantwortung trug und der Glaube sich als Kraft der Gerechtigkeit bewähren musste. Aber wie eigentlich? Da schien nun Marx der große Wegweiser zu sein. Er habe nun die Rolle übernommen, die im 13. Jahrhundert Aristoteles zugekommen war, dessen vorchristliche (also "heidnische") Philosophie zu taufen war, um Glaube und Vernunft in die rechte Beziehung zueinander zu bringen. Wer aber Marx ( in welchen neomarxistischen Variationen auch immer) als den Vertreter der Weltvernunft aufnimmt, der nimmt nicht einfach eine Philosophie, eine Vision über Herkunft und Sinn des Daseins an, sondern der übernimmt vor allem eine Praxis. Denn diese "Philosophie" ist wesentlich eine "Praxis", die erst "Wahrheit" schafft, nicht eine solche voraussetzt. Wer Marx zum Philosophen der Theologie macht, der übernimmt den Primat des Politischen und der Wirtschaft, die nun die eigentlichen Heilsmächte (und, wenn falsch angewendet, Unheilsmächte) sind: Die Erlösung des Menschen geschieht in solcher Sicht durch die Politik und die Wirtschaft, in der die Gestalt der Zukunft bestimmt wird. Dieser Primat der Praxis und der Politik bedeutete vor allem, dass Gott nicht als "praktisch" einzustufen ist. Die "Realität", auf die man nun einzugehen hatte, war allein die materielle Realität der geschichtlichen Gegebenheiten, die zu durchschauen und auf die richtigen Ziele hin mit den dafür angemessenen Mitteln umzugestalten war, wozu unerlässlich auch die Gewalt zählte. Die Rede von Gott gehört in dieser Sicht weder zum Bereich des Praktischen noch zu dem der Realität. Man musste sie - wenn schon - verschieben, bis das Wichtigste getan sein würde. Es bliebt die Gestalt Jesu, die nun freilich nicht mehr als der Christus erschien, sondern als die Verkörperung aller Leidenden und Unterdrückten und als deren Stimme, die zum Umbruch, zur großen Veränderung ruft. Das Neue an dem Ganzen war, dass das Programm der Weltveränderung, das bei Marx nicht nur atheistisch, sondern auch antireligiös gedacht ist, nun mit religiöser Leidenschaft gefüllt wurde, sich auf religiöse Grundlagen stützte: eine neu gelesene Bibel und eine Liturgie, die als symbolischer Vorvollzug der Revolution und als Bereitung für sie gefeiert wurde.
Man muss es zugeben: Das Christentum war mit dieser merkwürdigen Synthese wieder in die Öffentlichkeit der Welt getreten und eine "epochale" Botschaft geworden. Es verwundert nicht, dass die sozialistischen Staaten dieser Bewegung freundlich gegenüber standen. Bemerkenswerter ist, dass auch in den "kapitalistischen" Ländern die Befreiungstheologie das Hätschelkind der öffentlichen Meinung war, dem zu widersprechen geradezu als Versündigung gegen die Menschlichkeit und Menschheit angesehen wurde, auch wenn man die praktischen Anweisungen im eigenen Bereich natürlich nicht angewendet sehen wollte, weil man ja bereits bei einer gerechten Sozialordnung angekommen sei.
....
Das eigentliche und tiefste Problem der Befreiungstheologien sehe ich in dem faktischen Ausfall des Gottesgedankens, der natürlich auch (wie angedeutet) die Gestalt Christi grundlegend verändert hat. Nicht als ob man Gott geleugnet hätte - beileibe nicht. Er wurde nur für die "Realität", der man sich zuwenden musste, nicht gebraucht.<<
Joseph Kardinal Ratzinger: Einführung in das Christentum. Aus dem Vorwort zur Neuausgabe 2000.
Man muss es zugeben: Das Christentum war mit dieser merkwürdigen Synthese wieder in die Öffentlichkeit der Welt getreten und eine "epochale" Botschaft geworden. Es verwundert nicht, dass die sozialistischen Staaten dieser Bewegung freundlich gegenüber standen. Bemerkenswerter ist, dass auch in den "kapitalistischen" Ländern die Befreiungstheologie das Hätschelkind der öffentlichen Meinung war, dem zu widersprechen geradezu als Versündigung gegen die Menschlichkeit und Menschheit angesehen wurde, auch wenn man die praktischen Anweisungen im eigenen Bereich natürlich nicht angewendet sehen wollte, weil man ja bereits bei einer gerechten Sozialordnung angekommen sei.
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Das eigentliche und tiefste Problem der Befreiungstheologien sehe ich in dem faktischen Ausfall des Gottesgedankens, der natürlich auch (wie angedeutet) die Gestalt Christi grundlegend verändert hat. Nicht als ob man Gott geleugnet hätte - beileibe nicht. Er wurde nur für die "Realität", der man sich zuwenden musste, nicht gebraucht.<<
Joseph Kardinal Ratzinger: Einführung in das Christentum. Aus dem Vorwort zur Neuausgabe 2000.
ElsaLaska - 30. Mär, 13:08
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