Die bandiera turca im Dom zu Osimo.

Ein Artikel für das Vatikan-Magazin Ausgabe November 2010.
Die bandiera turca im Dom zu Osimo. Von Barbara Wenz.
Die ersten Christen des antiken Städtchens Auximum – dem heutigen Osimo -, in der Mark bei Ancona, brauchten gegen eine fast übermächtige heidnische Tradition allen Beistand, den sie bekommen konnten. Die Altstadt ist von einem System von Katakomben durchzogen, in denen Abbildungen des Mithras und Hinweise auf den Bacchus-Kult gefunden wurden. Der Dom ist über einem Äskulaptempel, auf der höchsten Erhebung des Stadtgebietes, errichtet. In der Domkrypta werden die Überreste von ganzen vier stadteigenen Märtyrern verehrt. Selbst die Fassade des duomo zeugt von dem geistlichen Kampf, der hier getobt hat. Eine Freitreppe führt empor zum dreibogigen Portikus. In einem der Türbögen winden sich zwei riesige Schlangen, in einem anderen kann man das Lamm Gottes und Petrus mit den Himmelsschlüsseln erkennen. Die große Rosette links des Portikus ist gleich von einem ganzen bestiarium umringt: Steinerne Löwen, Gnome, Sirenen und allerhand Fabelwesen wurden wie ein dämonisches dreidimensionales Zifferblatt rundum angebracht. Die „Außenabwehr“ für die im Dom versammelte Gemeinde wird komplettiert durch eine herrliche Lunette seitlich des Portikus, in der als Halbrelief die Gottesmutter mit dem Kind und die zwölf Apostel zu sehen sind. Zwei davon reichen Salbtöpfe als Zeichen für die Vollmacht der Kirche, dem mystischen Leib Jesu, das Evangelium in Seinem Namen zu verbreiten - die sancta mater ecclesia in nuce.
Alle Vorsorgemaßnahmen zur Abwehr des Bösen scheinen funktioniert zu haben. Die Gemeinde blühte und gedieh, der Dom konnte mehrmals umgebaut und renoviert werden. Und schließlich hat der Heilige Geist sogar den hl. Joseph von Copertino nach Osimo geführt. Abgehoben in die Ewigkeit ruht er in der Krypta von San Francesco, unterhalb des Domes gelegen, in seinem von Engelshänden getragenen Schneewittchensarg (vgl. Beitrag im Vatikan-Magazin Januar 2010).
Doch auch im Dom der Stadt gibt es Wunderbares, Heiliges und Erstaunliches zu sehen. Da wäre die Kruzifixkapelle, eine der fünf Seitenkapellen des Doms. In ihr hängt ein wundertätiges Holzkreuz, der Korpus Jesu ist ebenfalls aus Holz, bemalt in den Tönungen menschlicher Haut. Es stammt aus dem 12. Jahrhundert und ist typisch für diese Zeit. Statt eines hölzernen Lendenschurzes trägt er eine rockartige Stoffbahn um die Hüften, er ist mit vier, nicht mit drei Nägeln ans Kreuz geheftet; das heißt, die Füße stehen parallel.
Die lokale Überlieferung sagt, dass am 2. Juli 1797 mehrere Kirchenbesucher beobachteten, wie Christus am Kreuz die Augen öffnete und wieder schloss. Das Wunder hielt mehrere Tage an und wurde von 127 kirchlichen und weltlichen Gemeindemitgliedern bezeugt. Zu dieser Zeit wüteten die Soldaten Napoleons in Italien gegen die Zivilbevölkerung. Entführung, Vergewaltigung, Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung. Hinzu kam die Entweihung und Verwüstung von Kirchen und Klöstern - für die gläubigen Italiener besonders unerträglich - sowie die Verfolgung von Priestern, Ordensleuten und geistlichen Würdenträgern. In der Tat befand sich der damalige Erzbischof von Osimo, Kardinal Guido Calcagnini, im Exil in Ferrara, als ihn die Anfrage der Bürgerschaft erreichte, ob man nicht künftig wenigstens alle fünf Jahre eine Prozession abhalten solle, um auch die nachfolgenden Generationen an dieses erschütternde und wunderbare Ereignis zu erinnern. Der 2. Juli ist seither ein besonderer Festtag in Osimo.
Unter dem Chor mit der Apsis liegt die Krypta aus dem 12. Jahrhundert, ein kleines Meisterwerk von Mastro Filippo mit insgesamt 16 Säulen, die sich allesamt voneinander unterscheiden. Nicht nur, dass ihre Würfelkapitelle verschiedene Muster tragen, ihre Höhe wächst auch von Süden nach Norden an, während sich gleichzeitig der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Die dort aufgestellten Sarkophage stammen zum Teil aus dem 4. Jahrhundert und beherbergen die Überreste von San Leopardo, dem auch der Dom geweiht ist und der nach alter Tradition der erste Bischof von Osimo gewesen sein soll, außerdem die Relikte von Diocletius, Sinnisius, Florentinus und Maximus, den Märtyrern von Auximum.
Beim Verlassen des Domes sticht ein riesiger barock gestalteter Gedenkstein ins Auge. An der Wand daneben hängt ein über fünf Meter langes rot-weißes Banner, das mit Halbmonden bedeckt ist. Die Geschichte dieses Beutestücks - der bandiera turca - ist eine Heldentat und wert, erzählt zu werden. Einige Jahrhunderte lang wurde die italienische Adriaküste immer wieder von türkischen Piraten heimgesucht. Im Jahre 1723 war ihr Anführer ein aus Palermo entflohener Mann namens Raies Amurat, der an der italienischen Ostküste Schrecken und Terror unter den einfachen Leuten verbreitete. Die Türken konnten an den flachen Stränden der Marken besonders gut anlanden und starteten Raubzüge ins Landesinnere. Sie plünderten, vergewaltigten, sengten und mordeten, obwohl die marchigiani kaum etwas besaßen als ein Stückchen Land, eine Kate und eine Handvoll Kinder. Ganz besonders an den Kindern hatten Amurats Leute Interesse, aber auch an den Frauen. Für Christensklaven gab es in Nordafrika, vor allem in Algerien, einen gigantischen Markt.
Einige Historiker schätzen, dass durch muslimische Piraten in zweieinhalb Jahrhunderten circa 1,25 Millionen Christen – nicht nur im Mittelmeerraum – in Gefangenschaft gerieten. Die Frauen in die Harems, die Männer auf die Ruderbänke der Galeeren, die Kindersklaven zur freien Verwendung.
Beliebt war auch das Fordern von Lösegeld für Gefangene aus begüterteren Familien. Orden wie die Mercedarier sahen ihre Hauptaufgabe darin, Geld für diejenigen Christen in muslimischer Gefangenschaft zu sammeln, deren Angehörige zu arm waren, um sie loskaufen zu können – oder sich notfalls selbst als Austauschgeisel zur Verfügung zu stellen.
Insbesondere die päpstliche Flotte widmete sich schon aus Tradition dem Kampf gegen muslimische Piraten: Im neunten Jahrhundert von Papst Johannes VIII. formell etabliert, hatte sie bereits 849 bei der Seeschlacht von Ostia gegen die sarazenischen Invasoren einen großartigen Sieg erlangt. 1571 errang sie als Teil der Heiligen Liga den unwahrscheinlichen Sieg über die Flotte des Osmanischen Reiches. Von den eroberten türkischen Galeeren konnten damals etwa 12.000 bis 15.000 christliche Rudersklaven befreit werden, Angaben je nach Quellenlage.
Unser Raies Amurat hatte deshalb ausgesprochenes Pech, dass der Kommandant eines der päpstlichen Schiffe, der Trireme „San Pietro“, ein Einwohner von Osimo war: Conte Francesco Guarnieri, ein Malteserritter noch dazu. Conte Guarnieri war also äußerst interessiert daran, die Heimat seiner Väter und Vorväter piratenfrei zu halten und sein Volk zu beschützen. Tatsächlich gelang es ihm nach einer Schlacht auf hoher See, das Piratenschiff zu entern. Angesichts der immerhin zehn Kanonen und den zwei Dutzend Wurfmaschinen, mit denen es ausgerüstet war, eine anerkennenswerte Leistung. Doch dem Conte gelang noch mehr: Während des folgenden Schwertkampfes auf dem Schiff verwundete er Amurat am Bein und nahm ihn und die Überlebenden seiner Mannschaft gefangen. An Bord fanden sich auch entführte Christen, darunter drei Knaben, die als Schiffsjungen arbeiten mussten.
Als frommer Kommandant eines Schiffes der päpstlichen Flotte und treuer Sohn der Stadt Osimo übergab der siegreiche Conte die erbeutete Türkenstandarte in einer feierlichen Zeremonie der Hl. Thekla, der Schutzpatronin der Stadt. Zweihundert Jahre lang stellte die dankbare Bevölkerung das Banner zur Erinnerung an dieses Bravourstück regelmäßig im Dom aus. Heute hat es, im Zuge der Renovierungsarbeiten, einen dauerhaften Platz in der Nähe des Ehrenmals aus dem Jahre 1766 für Conte Guarnieri gefunden.
Dort hängt die bandiera turca wie ein Senklot, das in die Zeiten der großen - und kleinen - christlichen Siege für die Rettung des Abendlandes hinabreicht. Auch wenn ihr heute kaum noch jemand zuhören mag, so kann sie doch nicht aufhören, davon zu erzählen.
ElsaLaska - 13. Mär, 12:45
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