Reinhold Schneider: Der Traum des Heiligen - Seite Eins
Der Gefangene hörte den Gesang nun wieder, mit dem der Tag begonnen hatte; halbgeschlossenen Auges an dem schmalen offenen Fenster sitzend, sah er auch die Gestalten der Singenden wieder, wie er sie am Morgen gesehen: die abgezehrten Mönche der Kartause, die in der Gefangenschaft unbeschreibliche Erniedrigung erlitten hatten, wurden zum Tode geführt, weil sie sich dem Willen des Königs nicht beugten und den Eid auf seine Oberhoheit über die Kirche Englands nicht leisten wollten. Freude lag auf den bleichen Gesichtern , und Siegeszuversicht tönte aus ihrem Gesang, während sie zwischen den Gewaffneten über den Hof des Tower zum Tore schritten. Thomas Morus hatte seiner Tochter, die an seiner Seite am Fenster stand, das strenge Büßerleben der Mönche gerühmt, das sie so wohl vorbereitet hatte auf die schwerste Stunde ihres Lebens. Aber nun, in der späten lauen Abendstunde kehrte der Gesang in der Erinnerung wie aus einem andern Reiche zurück; die ehrwürdigen Väter mussten längst ausgelitten haben auf der Richtstätte; sie bedurften des Mutes und des heiligen Willens nicht mehr, die ihnen auf dem letzten Gange Kraft gegeben hatten; ihre Stimmen waren die Stimmen Verklärter, die den Herrn priesen und seine geheimnisvolle, gnadenhafte Macht. Ihnen war das Licht offenbar geworden während unten auf der Erde das Licht ihres letzten Leidenstages erlosch; tröstend neigte sich der Gesang herab.
[Wieder eine herausragende erste Seite - aus dem Erzählband "Die dunkle Nacht" von R. Schneider]
[Wieder eine herausragende erste Seite - aus dem Erzählband "Die dunkle Nacht" von R. Schneider]
ElsaLaska - 1. Sep, 10:47
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