Literarisches Blog
[Update: Und läuft ihren ersten Höhepunkten entgegen.
Hier geht es zu einer
Übersicht der Personen innerhalb der Saga um Gerold von Greifenburg und seine Mannen, und
hier zur aktuellen Folge von heute.]
Der Ruf des Wolfes
»Heute war die erste Vollmondnacht. Den einfachen Menschen meiner Zeit bereiteten diese Nächte oft Unbehagen und sogar Furcht, denn um derartige Nächte häuften sich viele uralte Geschichten und düstere Legenden. Doch so sehr ich mich auch bemüht hatte, meine Hintersassen von dieser Furcht zu befreien, so wenig war es mir bisher gelungen.«
Aus den Tagebüchern Gerold von Greifenburgs
Der Ruf des Wolfes
Lauf wenn du kannst!
© OT 2013 - Alle Rechte vorbehalten.
Zum Prolog
hier, zu Teil 1
direkt hier und von dort aus dann weiter, sobald die nächsten Folgen eingestellt und verlinkt sind.
ElsaLaska - 8. Jul, 21:01
Tara Emahars Mutter tanzte noch in der Nacht vor ihrer Niederkunft den Flamenco. Taras Vater dagegen, der Sargmacher des kleinen andalusischen Dorfes, hatte auf seine eigene Art vorgesorgt und in den Wochen vor dem Ereignis zwei Särge gezimmert, einen großen und einen winzigen. Nach vollbrachter Arbeit war er in die Dorfkneipe gegangen und erst wieder zurückgekehrt, als Tara ihren ersten Schrei tat. Der kleine Sarg war sein Geburtstagsgeschenk für sie und den großen konnte er nachher an den Bürgermeister verkaufen, dessen Frau ebenfalls im Kindbett gelegen hatte, aber nicht mehr aufgestanden war.
Taras Vater war es zufrieden und nachdem er seine Tochter und einziges Kind gesegnet hatte, kehrte er wieder in die Dorfkneipe zurück, um sich von den Anstrengungen der letzten Tage zu erholen. Taras Mutter stand alsbald vom Kindbett wieder auf, um an den Samstagen die Kastagnetten klappern zu lassen und so blieb Tara mitsamt ihrer Wiege und dem kleinen Sarg, den der umsichtige Vater daneben platziert hatte, in der Obhut ihrer Großtante Serena.
Großtante Serenas beste Freundin war eine alte Zigeunerin und Serena hielt es für ihre Pflicht, diese über die Zukunft von Tara zu befragen. Jedoch verlief die Befragung unbefriedigend, befand zumindest Serena.
Ihre Freundin schüttelte nach zwei Wassergläsern voller Brandy den Kopf und verscheuchte die Wolken von Glühwürmchen, die nachts über Taras Wiege zu kreisen pflegten. Die uralte Zigeunerin segnete die Wiege, ließ sich schwer in den Sessel fallen und zündete sich eine Zigarre an. Schließlich seufzte sie zwei - dreimal tief und erklärte Serena, dass die kleine Tara im Besitz der Worte sei.
„Welcher Worte?", fragte Serena irritiert, denn Tara lag friedlich da und gluckerte ab und an nach Art der Babies.
„Aller Worte, die es je gegeben hat und je geben wird.", entgegnete die Zigeunerin, nicht ohne noch einmal einen tiefen Zug von ihrer Zigarre zu nehmen.
„Nun gut, so sei es," murmelte Serena und blickte unsicher auf das von den Glühwürmchen beleuchtete Gesichtchen ihres Schützlings. „Aber was ist mit Männern? Wird sie schön werden? Einen reichen Mann heiraten? Viele Söhne bekommen?" Sie schenkte großzügig Brandy nach in Erwartung eines positiven Bescheides.
"Tara wird jeden Mann haben können, den sie möchte, und von jedem Mann einen Sohn, wenn sie möchte. Sie ist im Besitz der Worte und dies vermag mehr auszurichten als alles andere in den Herzen der Menschen."
Jetzt war es an Serena, tief aufzuseufzen. Was für eine Prophezeiung!
„Was seufzt du, Serena? Sie ist eine Dichterin, und als solche geboren. Ihre Worte werden sein wie der Tanz, den ihre Mutter mit Hibiskusblüten im Haar tanzt und sie werden sein wie die Särge, die ihr Vater an nebligen Montagen zimmert. Nicht alle Menschen werden ihre Worte verstehen, weil nicht alle Menschen eine Seele haben." Hier schnäuzte sich die Zigeunerin kräftig und Serena beeilte sich, ihr ein Taschentuch anzubieten, bevor der Kleidärmel herhalten musste. „Nimm die Kleine, die ebenfalls vor ein paar Tagen geboren wurde, die Tochter des Bürgermeisters."
„Was ist mit ihr?", wollte Serena wissen.
„Sie liegt in einer Wiege aus Ebenholz, drei Ammen sind bestellt und ihr Vater geht schon wieder auf Brautschau, kaum dass der Leib seiner Gattin kalt geworden ist." Die Zigeunerin wog den Kopf.
„Die Tochter des Bürgermeisters hat keine Worte. Sie hat keine Ohren, um zu hören und kein Herz, um zu verstehen. Und weil das so ist, wird sie nie erleben, wie ihre Seele mit der des Geliebten verschmilzt."
Serena winkte ab.
„Hör zu, Smeralda, wir beide wissen, dass es Schlimmeres auf dieser Welt gibt."
„Wirklich? Du kennst den Unterschied ebenso wie ich. Ich habe in meinem Leben schon oft die Röcke geschürzt in einem Busch, auf einem Felsen ..."
Serena kicherte, doch die Alte fuhr unbeirrt fort:
"... aber wenn das Herz nicht dabei ist, ist das Herz nicht dabei. Die Tochter des Bürgermeisters wird diesen Unterschied nie bemerken, das ist das Gute daran. Und nun schenke mir noch einmal ein, Freundin."
Tara, die mit dichtem, dunklem Haar geboren worden war, lag in ihrer Wiege und träumte, es regne Mandelblüten, es dufte nach Honigmilch und es fächle ihr ein Pfau mit seinen Perlmuttfedern Luft zu.
Großtante Serena wartete in all den Jahren auf die Worte, die ihre Freundin, die Zigeunerin angekündigt hatte. Doch Tara sprach nicht. Stattdessen bemalte sie ihren kleinen Sarg mit Blumen und Tieren. Wenn sie etwas sagte, war es unverständlich, so, als höre man dem Dorfdeppen zu, wenn er speichelblasenwerfend vor sich hin brabbelte.
An diesem Maßstab gemessen entwickelte sich die Bürgermeisterstochter, Lucia, allerdings prächtig. Sie redete ohne Unterlass. Am liebsten über Dinge, die besser ungesagt geblieben wären. Als sei ein maurischer Dschinn in sie gefahren, plapperte sie den lieben langen Tag. Es war ohrenbetäubend.
Tara Emahar dagegen tanzte mit den Fischen.
Alejandro, dem Sohn des Notars dröhnte der Kopf von Lucias Versuchen, sein Herz herbeizureden. Ihre beiden Familien betrachteten diese Verbindung mit Wohlwollen. Es war ihm nicht unangenehm gewesen, als Lucia heute Abend seine Hand ergriff, um sie an ihren kleinen Busen zu drücken.
Er für seinen Teil würde das Beste aus der Verlobung machen, die in Kürze bekanntgegeben werden sollte, allerdings hoffte er inständig, in der Zwischenzeit zu ertauben. Für einen kurzen Moment war er sogar davon überzeugt, dass dieses Ereignis bereits eingetreten sei, denn er sah Tara Emahar im Mondschein dahingleiten.
Sie kam ihm entgegen auf der nächtlichen Dorfstraße als umgäbe sie Meereswasser, ihr Schritt ein Tanz mit einem Schwarm unsichtbarer Fische. Alejandro schnappte nach Luft und hüpfte auf einem Bein mit schief gelegtem Kopf. Aber er hatte kein Wasser in den Ohren, er war auch nicht plötzlich ertaubt, er schaute nur Tara Emahar, die Dichterin, wie sie die Dorfstraße entlang ging - und ihm entgegen.
Zuhause angekommen legte er sich ins Bett, drehte sein Gesicht zur Wand und kündigte an, nie wieder aufzustehen.
Der Bader kam und ließ ihn zur Ader, der Pfarrer kam und nahm ihm die Beichte ab, Lucia kam und drückte seine kalte Hand an ihren winzigen Busen, auf den sie sehr stolz war, doch niemand konnte Alejandro wieder herstellen. Schließlich gab seine verzweifelte Familie den Sarg bei Taras Vater in Auftrag.
Taras Vater jedoch hatte eigene Sorgen. Seit einigen Tagen schlich sich seine Tochter in die Werkstatt und bedeckte die Wände, die Arbeitsfläche, die Fenster, die Holzplatten, die fertigen Särge mit ihren Gedichten über Alejandro. Sie machte nicht einmal vor dem vorbestellten Sarg für Alejandro selbst halt, so dass er dem gramzerfurchten Notar schließlich einen Sarg präsentieren musste, dessen Wände, Boden und Deckel über und über mit Lobpreisungen und Huldigungen von Alejandros Haar, Alejandros Augenbrauen, Alejandros regenwolkenfarbenen Augen und Alejandros Körper bedeckt waren.
Der Notar geriet außer sich, Alejandro jedoch wurde auf der Stelle wieder gesund, als er den für ihn bestimmten Sarg sah. Niemand anders als Tara Emahar hatte diese Verse verfasst, soviel war klar, und wie er für sie Mond und Gestirne war, so war sie für ihn Wermut und Süßkirsche, Bittermandel und Orangenblüte.
Sie gingen zusammen fort, die Särge ließen sie unbekümmert zurück, und zeugten ein großes Geschlecht von Sängern und Dichtern.
Ihre Nachkommen sind heute über die ganze Erde verstreut.
ElsaLaska - 7. Jul, 22:07
Ein Kangalrüde aus der Provinz Sivas in Anatolien erinnert sich:
Meine Mutter hat mich alles gelehrt, was ich wissen musste.
"Wir haben schon immer an der Seite der Menschen gekämpft, Sohn, deine Vorfahren zogen mit ihnen in die Schlacht wenn Krieg war, im Frieden beschützten sie ihre Herden", lehrte sie mich. "Du stammst von einer edlen Linie, dein Großvater war berühmt für seine tapferen Taten. Wir entscheiden allein darüber, ob wir einen Angreifer verjagen oder ihn verfolgen und töten. Den Kindern und Lämmern aber darf nie etwas geschehen, keinen Wolfsatem sollen sie riechen, keine Klaue sie ritzen, kein Reißzahn sie streifen: Dafür stehst du mit deinem Leben ein. Wie jeder von uns."
Mein Großvater hat es mit den Berglöwen aufgenommen und meine Mutter einen Bären getötet. Es war ihre Pflicht und Ehre, das zu tun; aber die Menschen machten ein großes Aufhebens darum. Von weit her kamen Hirten, um meine Mutter und meine kleinen Geschwister zu sehen, von denen kein Einziges vor dem Wolfspelz zurückschrak, den sie ihnen zeigten, um ihren Mut zu prüfen.
Mich allein ließen sie bei ihr, um sie nicht zu bekümmern. Aber meine Mutter war stolz, dass ihre Kinder nun den Ruhm der Linie weiter ins Land hineintragen würden.
Sie ging mit mir hinaus zu den Herden und zeigte mir ihre Lieblinge, die neu geborenen Lämmer, die schutzbedürftigsten unter allen. Bei Tagesanbruch und in der Abenddämmerung liefen wir in großen Kreisen um die Herde herum und achteten auf die Witterung, die wir regelmäßig aufnahmen, mit unseren Nasen im Wind - denn dies waren die Zeiten der Räuber.
Bei Tage lagen wir ruhig an einer Stelle, von der aus wir die Herde überblicken konnten und schonten unsere Kräfte. Die Menschen, die uns vertrauten, ließen uns allein. Mutter schätzte dieses Gebaren, aber ich war froh, wenn sie einmal kamen, um nach der Herde zu sehen. Denn dann durfte ich ausgelassen sein, auch wenn es mir ganz verboten war, mit ihnen zu spielen. Doch allzu schnell brach die Dämmerung herein und wir mussten das Gebiet sichern, auf der Hut sein, immer in Bewegung bleiben.
Wenn die Zeit eines der Mutterschafe kam, dann hieß sie mich still neben die Gebärende zu liegen, während sie den Platz sicherte. Ich durfte das Schaf nicht stören, aber es sollte wissen, dass einer von uns dabei war und es ohne Furcht sein konnte. Wenn das Lamm da war, schaute ich zu Mutter hinüber und wenn sie mir zunickte, dann beugte ich mich stolz hinunter zu dem Kleinen und begrüßte es mit Schnuppern und Lecken. Die Mutterschafe, die sich schnell erholten, stupste ich aufmunternd an. Es waren schöne Momente, die schönsten überhaupt in der Herde.
Wenn die Lagerfeuer brannten und die Hirten auf den kargen Weiden übernachteten, gab es auch für uns eine kleine Atempause. Die Räuber scheuen das Feuer und so konnten wir uns in respektvollem Abstand niederlegen und ruhen. Mutter rügte mich, wenn ich den Gesang der Menschen nicht respektierte und so übernahm ich ihre Gepflogenheit, schweigend in die Flammen zu schauen bis mir die Augen zufielen; doch manches Mal erwachte ich von lauten Träumen, in denen sie verzweifelt heulte und japste. Sie kämpfte oft im Schlaf mit dem Bären, den sie damals besiegt hatte, und ich ließ sie jedes Mal zu Ende träumen, damit sie nach dem Schrecken des Kampfes, den sie immer wieder durchleben musste, auch den Sieg wieder und wieder erfuhr. Ich merkte es daran, dass sie ruhiger wurde und ihr Geheul in ein sanftes, ruhiges Murren überging, was seine Zeit brauchte.
"Siegt eigentlich manchmal der Bär in deinem Traum?", habe ich sie einmal gefragt.
Sie schaute mich lange an, dachte nach, wie sie über jede meiner Fragen nachdachte, damit ich sah, dass sie mich ernst nahm.
"Nein, Sohn, das tut er nie", sagte sie mit einem Gähnen, um sich Zeit zu verschaffen. "Du wirst das erst verstehen, wenn du selbst einen Räuber getötet hast. Du gehst in einen solchen Kampf mit der Gewissheit, zu siegen. Andernfalls wirst du verlieren. Und wenn ich damals verloren und überlebt hätte, dann würden mich jetzt diese Träume plagen, von denen du sprichst. Das aber wäre schlimmer als der Tod. Du siehst also, ein Sieg bedeutet nicht nur, mit heiler Haut davonzukommen und den Jäger zu vernichten, ein Sieg bedeutet, dass du zu allererst deine Herde rettest, dann deine Träume, und am Ende auch dein Leben. Ohne deine Herde bist du nicht mehr der, der du bist, denn was ist ein Wächter wert, der nichts zu bewachen hat? Und ohne deine guten Träume bist du schlimmer dran als tot, mein Sohn."
"Wie ist es, tot zu sein?", frage ich sie, nachdem ich lange geschwiegen und den Gesängen der Menschen gelauscht hatte.
Die kampferprobte Hündin warf prüfend den Kopf in die Höhe, sog Luft ein und blickte dann lange zum Vollmond über den Hügeln empor.
"Gefällt es dir, am Feuer auszuruhen, den Menschen zuzuhören, in die Flammen zu schauen und ab und an nach dem Mond zu sehen?"
"Ja, meine Mutter, das tut es- sehr."
"Wenn du tot bist, einmal, wird es das alles nicht mehr für dich geben. Deshalb, Sohn, kämpfe mit all deiner Kraft, mit deinem ganzen Mut und mit all deiner Macht. Und in der Gewissheit, dass du nach deinem Sieg mit mir am Lagerfeuer der Menschen liegen wirst."
Dann schwieg sie. Als ich nach einiger Zeit zu ihr hinüberspähte, sah ich, dass ihr der Kopf zwischen die Pfoten gesunken war.
Ich habe die Nächte mit ihr, unseren Schafen und Menschen nie vergessen. Und einmal kam die Zeit, da war sie nicht mehr an den Feuern und auch nicht mehr auf den Weiden. Diese Zeit dauerte lange und ich bin alt darüber geworden. Wenn ich gesiegt hatte, dann lag ich am Feuer der Menschen, doch ich lag allein.
Sie führten mir Gefährtinnen zu, damit ich meine stolze Linie fortsetzte, doch am Ende haben sie sie mir alle wieder genommen.
"Was", so fragte ich sie in den zahllosen mondlosen Nächten, in denen ich die Feuer der Hirten vermisste, denn sie kamen nur noch selten, um nach mir zu schauen, "Was trennt mich nun noch vom Tod?"
Ich gab mir selbst die Antwort: es war die Herde und vor allem waren es die Lämmer, die in jedem Jahr geboren wurden. Denn den Lämmern, so hat man mich gelehrt, den Lämmern und Kindern darf nie etwas geschehen: keinen Wolfsatem sollen sie riechen noch dürfen Klauen sie ritzen, kein Reißzahn sie streifen. Dafür stehe ich, Sohn der Bärentöterin, mit meinem eigenen Leben ein.
ElsaLaska - 6. Jul, 23:59
Bis etwa in mein Teenageralter hinein war mein Vater der beste Vater der Welt. Danach kam es zu den üblichen Differenzen - und er wurde schwer krank und sollte es über dreißig Jahre lang bleiben, bis zu seinem Tod auf der Intensivstation. Trotz aller Differenzen, seiner Unduldsamkeit wegen chronischer Schmerzen usw... Bin ich heute noch auf eine einzige Handlung stolz und dafür dankbar. An seinem letzten Abend auf der Intensiv klagte er über Schmerzen in den Füßen und Beinen. Er hatte zum Schluss offene Beine. Wohl auch wegen der Altersdiabetes, die ihm, zusammen mit Lymphknotenkrebs, mehreren Herzinfarkten, drei gravierenden Bypass-Operationen und noch vieles mehr, nicht erspart blieb.
Dazu kam seine Taubheit. Es war praktisch nicht mehr möglich, normal zu kommunizieren. Es war mühsam und anstrengend. Und natürlich war er selbst sehr unzufrieden und sehr anstrengend, denn es war schließlich er, der litt. An seinem letzten Abend habe ich ihm mit einer aromatischen Rosmarin-Salbe die schmerzenden Füße eingerieben und massiert. Mit einem Wattestäbchen, in Wasser getunkt, den Mund befeuchtet. Hätte ich gewusst, dass er in dieser Nacht sterben würde, wäre ich nicht nach Hause gegangen.
"Bis morgen!", sagte ich. Und küsste ihn auf die Stirn. Da hatte er die Augen schon geschlossen und sich in sein Schicksal ergeben. "Wenn es noch einmal Morgen wird", murmelte er leise.
So war das.
Aber ich wollte erzählen, was für ein toller Vater er war. Mein Papa las mir jedes Wochenende frühs um sechs Uhr, obwohl er lieber ausgeschlafen hätte als Werktätiger, aus einem gigantischen Readers-Digest-Band über Völker, Kulturen und exotische Tiere vor. Er schnitzte mir im Frühjahr Weidenflöten. Er baute mir eine kleine Dampfmaschine. Er zimmerte mir Stelzen und lehrte mich, darauf zu gehen. Er zog mit mir Kaulquappen zu Fröschen heran. Er brachte mir das Skifahren bei. Er fuhr jeden Samstag mit mir zu einer alten Burg oder einer Sehenswürdigkeit.
Und als ich es leid war, immer Erwachsene zu fragen: "Was steht denn da, kannst du mir das vorlesen?" - was eigentlich bei jeder Milchtüte und Streichholzschachtel-Aufschrift geschah, da lehrte er mich an seinen Feierabenden unter der Woche auch noch das Lesen. Ich war erst drei Jahre alt. Aber ich wollte LESEN können. Wir hatten eine dünne, alte Grundschulfibel. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, an dem es passierte: Was vorher einfach merkwürdige Striche und undeutbare Linien gewesen waren, formte sich zu einem Satz, den ich klar erkennen und vorlesen und erfassen konnte. Der Satz hieß: "Hans und Elsa gehen zur Schule."
Das war das größte Geschenk, das er mir jemals machte.
Als ganz ganz kleines Kind lag ich oft an ihn geschmiegt auf der Wohnzimmercouch, wenn er abends nach der Arbeit erschöpft eingeschlafen war. Ich horchte auf seinen Herzschlag. Sorgfältig und genau. Denn es hätte ja sein können, dass dieser Herzschlag einmal aussetzen könnte - und dann wäre das die Katastrophe für ein kleines Mädchen gewesen. Ich dachte, so lange ich nur horche, setzt es auch nicht aus, dieses Herz.
Doch viele Jahre später habe ich aufgehört, darauf zu horchen. Ich wurde groß darin, es zu ignorieren.
Und am Ende war aus dem kleinen, besorgten Mädchen eine erwachsene Frau geworden, die die Entscheidung treffen musste, dass dieses gequälte, große Herz nun nicht mehr weiter gequält werden dürfe wie das Herz eines Rennpferds. Und als der Moment kam, schmiegte ich mich in seine Arme, die verdrahtet und durchbohrt worden waren von der Maschinerie der Intensiv. Die pumpte und schaffte und lärmte und gar nicht mehr aufhören wollte.
Und ich horchte.
Und dann wurde es endlich ganz still.
Verzeih. Und: Danke, Papa.
Für alles.
ElsaLaska - 16. Jun, 22:21
>>Der Totengräber
Er lebte außerhalb der Stadt,
in deren Mauern man ihn nicht duldete.
Denn an ihm haftete der Geruch
der Verwesung und des Todes.
Der Totengräber
Ein Märchen für Erwachsene
© OT 2013 - Alle Rechte vorbehalten.<<
In der Tradition der phantastischen romantischen Novelle vor mittelalterlicher Kulisse mit christlichem Hintergrund erzählt. Spannend und psychologisch vielschichtig aufgebaut.
ElsaLaska - 10. Jun, 10:21
zu Rodney Stark "Gottes Krieger - die Kreuzzüge in neuer Sicht":
>>Mit seinem Buch „Gottes Krieger“ rührt der amerikanische Religionssoziologe Rodney Stark an ein Tabu – er erzählt die Ursünde der Christenheit neu.
Was hat ein explodierender Kochtopf, der Unschuldige in einem Marathonlauf 2013 in Boston zerfetzt, mit den Kreuzzügen des 12.Jahrhunderts zu tun? Auf den ersten Blick nichts. Auf den zweiten alles. <<
Weiterlesen
hier.
ElsaLaska - 3. Jun, 18:42
>>Etwas ganz Besonderes geht vielmehr vor auf der Welt, und es hat einen Namen: Hastores Ponim - das heißt: Jetzt ist die Zeit, da Gott Sein Gesicht verbirgt.<<
Die Erzählung von Zvi Kolitz über das Warschauer Ghetto, aus dem Jiddischen übersetzt von Paul Badde.
Hier online.
ElsaLaska - 28. Apr, 18:46

Der Historiker und Journalist Michael Hesemann nahm kürzlich während mehrerer Studienreisen Tuchfühlung auf zu einer der ältesten Kirchen der Christenheit, die ihre Gründung auf den Evangelisten Markus zurückführt und ihre Zeitrechnung nicht mit der Geburt Jesu beginnen lässt, sondern mit dem Beginn der Christenverfolgung unter der Regentschaft Kaiser Diokletians. Einer der blutigsten und verheerendsten der damaligen Zeit. Die Kopten zählen ab dem Jahr 284 n. Chr. die "Ära der Märtyrer". Diese Ära ist nun seit fast 1700 Jahren noch immer nicht beendet, auch wenn die Christen in Ägypten nicht mehr per kaiserlichem Dekret verfolgt werden.
Spätestens seit dem 1. Januar 2011 ist die koptische Kirche auch hierzulande bekannter geworden - nach dem furchtbaren Anschlag in Alexandria mussten selbst die rund 6.000 in Deutschland lebenden Kopten ihre Weihnachtsfeiern zum 6. Januar unter massivem Polizeischutz feiern. Zahlreiche Katholiken und Christen anderer Konfessionen besuchten Januar 2011 die Weihnachtsliturgie in deutschen koptischen Gemeinden, um Mitgefühl und Solidarität zu signalisieren.
Das Interesse an dieser ebenso anziehend wirkenden wie fremdartigen Kirche stieg, deren koptisch-orthodoxer Zweig selbstständig ist und einen eigenen Patriarchen hat, welcher aus historischen Gründen auch den Titel "Papst" trägt - warum das so ist, erklärt Hesemann ebenfalls in seinem Buch -; während der koptisch-katholische Zweig zu den mit Rom unierten Kirchen zählt.
So lag es nahe, auf seiner geplanten archäologisch-historischen Spurensuche über die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, ihre Reisestationen und Aufenthalte, auch in den heute noch existierenden koptischen Klöstern und Wallfahrtskirchen halt zu machen und Priester und Mönche dort zu befragen, die über uraltes mündlich überliefertes Wissen oder sogar Papyri verfügen, die zum Teil über 1500 Jahre alt sind.
Dabei hat Hesemann nicht nur möglichst viele Quellen ausgewertet, sondern durchaus auch der örtlichen Überlieferung Platz und Raum gelassen, so dass ein Buch entstanden ist, welches ebenso historisch fundiert berichtet wie auch wunderschöne Geschichten von Quellwundern, ebenso heiligen wie heilenden Wassern und schwimmenden Bibeln zu erzählen weiß. Und davon, dass in mindestens einer Handvoll heidnischer Tempel in verschiedenen Städten, welche die heilige Familie in Ägypten besuchten, beim Eintritt des Jesuskindes die Götzenstatuen von Sockeln und Wänden fielen, um mit zerschlagenem Angesicht auf dem Boden liegenzublieben.
Alle diese Legenden und Überlieferungen scheinen dem postkonziliaren europäischen Katholiken eher fremd. Wann haben wir zuletzt in diesem Land eine Marienerscheinung gesehen? Und zwar allesamt, nicht nur eine ausgewählte Sehergruppe? In Zeitoun gab es eine, bei der sogar der damalige Präsident Nasser Augenzeuge wurde. Von der Erscheinung der Heiligen Jungfrau in Warraq 2009 kursieren sogar youtube-Videos.
Und wer kennt das Lourdes der Antike? Das Kloster des wunderbaren heiligen Menas, einem Reiter- und Soldatenheiligen, der unter Maximinius Daia allerfurchtbarste Foltern zu ertragen hatte, weil ihm im Traum geoffenbart wurde, er werde zu allen Tugendkronen auch noch die Krone des Märtyrers erlangen. Hesemann schildert den Mythos ebenso präzise wie die historischen Fakten zu diesem Ort in der Oase von Maryut, von Anbeginn der Überlieferung bis hinein mitten in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, wo sich folgendes Wunder um den Heiligen Menas ereignete, welches auch so manchen Skeptiker ins Grübeln bringt. Maryut liegt etwa 65 Kilometer von El Alamein entfernt, wo eine der berühmtesten Schlachten des Zweiten Weltkrieges stattfand - und sich das Geschick endlich gegen Hitlers Truppen wendete, die unter Generalfeldmarschall Rommel nach dort vorgestoßen waren und den Briten unter Feldmarschall Bernard Montgomery entgegenstanden. Und eben jener Feldmarschall hatte nun zu dieser Zeit einen Traum: "Er träumte von einer Panzerschlacht zwischen den Achsenmächten und den Alliierten, die von einem Mann aus erhöhter Position beobachtet wurde. Wann immer dieser Mann die Hand erhob, wichen die Truppen der Deutschen zurück, bis sie schließlich völlig besiegt waren. Auf die Frage, wie er denn hieße, antwortete der Mann mit nur einem Wort: 'Menas'."
Das war kurz vor der Schlacht von El Alamein, die den Allierten den ersten, großen Sieg brachte und den großen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg darstellte. Montgomery hatte diesen Traum einem koptischen Freund erzählt, Professor Nahguib Mahfouze, dem Leiter der Gynäkologie in der Universtätsklinik zu Kairo, bei dem sich seine Frau in ständiger Behandlung befand. Wir können also, mit dem Autoren Hesemann, die Quelle für glaubwürdig befinden - und uns dennoch wundern.
Es sind die Fülle an historischen Fakten, Belegen, Verweisen, Auszügen aus alten Chroniken, verwoben mit Legenden, Heilungswundern, Erscheinungen und Wallfahrten an besonderen Orten, von denen in Deutschland kaum je gehört wurde, die dieses Buch, das ebensogut als literarischer Reiseführer gelesen werden kann, so interessant und lesenswert machen. Ob man es locker überfliegt oder mit dem Bleistift in der Hand durcharbeitet: danach hat man Wesentliches über das Leben der Heiligen Familie in Ägypten, die koptische Kirche, ihre Geschichte, ihre Traditionen und ihre Probleme im heutigen Ägypten erfahren.
Ganz besonders erfreulich ist die Ausstattung mit einer Reisekarte, so dass man die zum Teil fremdartigen Ortsnamen, die kaum geläufig sind, visuell zuordnen kann, sowie zahlreiche weitere Abbildungen. Im Anhang finden sich neben Anmerkungen und Literaturhinweisen noch eine ausführliche Zeitleiste zur Geschichte der Kopten und ein Interview mit dem Generalbischof der koptischen Kirche in Deutschland, Anba Damian, zur aktuellen politischen Situation, zu dem, was uns als Christen eint, aber auch, was uns trennt. Von ihm stammt auch das Vorwort zu "Jesus in Ägypten. Das Geheimnis der Kopten."
Vorangestellt hat der Autor Michael Hesemann eine Widmung, die hier ebenfalls Erwähnung finden soll:
"Den Märtyrern vom Maspero-Platz und ihrem Traum von einer Gleichberechtigung der Kopten in Ägypten gewidmet." Möge dieser Traum in Erfüllung gehen.
Michael Hesemann: Jesus in Ägypten. Das Geheimnis der Kopten.
Erschienen im Herbig Verlag 2012.
ISBN: 978-3-7766-2697-1
24,99 Euro
ElsaLaska - 23. Apr, 11:11
Zu meiner Buchbesprechung von Alexander Kisslers
"Papst im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine Kirche 2005-2013",
die heute, am Tage des Geburtstages unseres lieben emeritierten Papstes auf
kath.net erschienen ist, geht es
hier entlang.
ElsaLaska - 16. Apr, 10:42
Ich aber, ich allein erhebe keine Klage, und was an mir
geschah steht nirgends vor Gericht.
Denn wo ist der Mächtige, der meine Sache führen, wo
ist der Gewaltige, der mir genug tun könnte?
Es reicht kein Leben aus, mich anzuhören, und keines
Lebens Kraft, mein Leid zu fassen.
Jedes Menschen Schmerz hat seine Stunde, und jedes
Volkes Jammer seine Abendröte,
Aber über meinen Schmerzen geht der Tag nicht unter,
und mein Jammer ist bei allen Völkern der Erde.
Ich war der Verblutende in allen ihren Schlachten, ich
war der zu Tode Getroffene jeder Walstatt.
Ich war der Gefangene, den der Hunger würgte. Ich
war der Vermisste, der in Nacht und Graun verdarb.
Ich war der Erstickte in den giftgen Kammern des
Verbrechens. Ich war der Gemarterte, bei dessen
Schrei kein Herz brach.
Ich war der Verschüttete in den Kellern der ver-
brannten Städte, ich war der ausweglos Verirrte
ihrer Flammenwälder.
Es war mein Haus, das man dem Flüchtling raubte, es
war mein Gewand, das man von seiner Schulter riss.
Es war mein Kind, das in der Mutter Arm erstarrte!
An jedem Tag war ich der Verleugnete, und zu jeder
Stunde war ich der Verratne ....
Ich bleibe der Verratene bei jedem neuen Schrei der Hähne!
Denn siehe, ich bin eine sanfte Stimme, in den wilden
Tälern eures Hasses,
Ich bin eine gnadene Stimme auf den Eisesgipfeln eures
Zornes,
Ich bin eine himmlische Stimme noch am Tor der Hölle.
Ich bin unverbittert Liebe, ich bin unerbittlich Liebe,
ich bin bittende Liebe ...
Liebt mich wieder, liebt euch alle und - verstummt!
ElsaLaska - 4. Apr, 19:00